Wird der digitale Produktpass die Modebranche verändern?

Der digitale Produktpass informiert Verbraucher:innen über die Nachhaltigkeit ihrer Kleidung. Wird er die CO2-Emissionen der Branche reduzieren?

Autor*in Kezia Rice:

Übersetzung Sarah-Indra Jungblut, 30.09.24

Viele Marken in der Modebranche verbergen ihre Lieferkette hinter einem Vorhang aus Nebel. Von den Materialien über die Chemikalien bis hin zu den Arbeitsbedingungen sind die Belege für nachhaltige und ethische Ansprüche kaum zugänglich. Aber schon bald sollen diese Informationen durch das Scannen eines QR-Codes in der gekauften Kleidung sichtbar werden. Hinter dem QR-Code verbirgt sich der sogenannte „digitale Produktpass“. Er stellt zusätzliche Informationen darüber bereit, wie das Produkt repariert, weiterverkauft oder recycelt werden kann.

Digitale Produktpässe (DPPs) sind derzeit eine optionale Zusatzleistung für Modemarken, die das Vertrauen der Verbraucher:innen gewinnen möchten. Es wird jedoch erwartet, dass sie bereits 2026 in der EU verpflichtend werden. Die Vorschriften gelten dann nicht nur für in der EU hergestellte Produkte, sondern auch für alle dort verkauften Produkte. Um ihren europäischen Kundenstamm zu halten, müssen weltweit tätige Modemarken DPPs zu ihren Produkten hinzufügen. Diese Maßnahmen sind Teil des Green Deal der EU und ihres Engagements für eine Kreislaufwirtschaft bis 2050.

Die Modebranche ist für eine Menge Umweltverschmutzung verantwortlich

Nach Angaben der EU hat die Modebranche einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck: Sie ist für rund 10 Prozent der globalen Umweltverschmutzung verantwortlich. Das sind mehr Emissionen, als Seeschifffahrt und internationale Flüge zusammen verursachen.

Doch die Produktion unserer Kleidung ist nicht nur CO2-intensiv, sondern hat auch einen hohen Wasserverbrauch: Schätzungsweise 79 Billionen Liter pro Jahr. Und dann ist da noch das Problem der Entsorgung. Unsere trendorientierte Kultur führt dazu, dass Kleidung schnell ersetzt und in alarmierendem Tempo weggeworfen wird. Ein ordnungsgemäßes Recycling findet dabei selten statt.

Nur bis zu 30 Prozent der Kleidung, die für wohltätige Zwecke gespendet wird, landet tatsächlich in Geschäften. Der Rest wird in den globalen Süden verschifft, wo sie weiterverkauft oder – was wahrscheinlicher ist – verbrannt, in Wasserläufe geworfen oder auf Müllhalden entsorgt wird.

Die Menschen, die Kleidung für Fast-Fashion-Marken herstellen, arbeiten oft lange Tage für niedrige Löhne unter unsicheren Bedingungen. Dies hat zu Katastrophen wie dem Rana-Plaza-Unglück im Jahr 2013 geführt, bei dem 1.100 Menschen starben, die Kleidung für Unternehmen wie Primark und Mango herstellten.

Gleichzeitig ist die Modebranche nicht gerade für ihre Transparenzkultur in Bezug auf diese Probleme bekannt. Greenwashing-Vorwürfe gibt es zuhauf, ebenso wie undurchsichtige und komplexe Lieferketten.

Die Einführung und Durchsetzung des DPP wird es Verbraucher:innen ermöglichen, bewusstere Entscheidungen darüber zu treffen, bei wem sie kaufen möchten. Digitale Produktpässe sind QR-Codes, die mit einem elektronischen Register verknüpft sind. Dieses Register enthält alle Informationen zu einem Produkt. Dazu können die Materialien gehören, aus denen es hergestellt ist, Informationen zur Wiederverwendung, Reparatur und zum Recycling sowie Einzelheiten zur Nachhaltigkeit eines Produkts. Damit kann der DPP sowohl von Verbraucher:innen genutzt werden, um ihre Kaufentscheidungen zu treffen, als auch von Regierungsbehörden, um zu überwachen, ob Hersteller und Importeure die Vorschriften einhalten.

Nicht nur in der Modebranche, sondern auch in vielen weiteren Branchen, vom Baugewerbe bis zur Elektronik, sollen DPPs eingeführt werden.

Der digitale Produktpass bringt Herausforderungen mit sich

RESET sprach mit Dr. Abraham Zhang, Dozent für Supply Chain Management und Technologie an der Universität Glasgow und Mitautor der Studie „Digitaler Produktpass für nachhaltiges und zirkuläres Lieferkettenmanagement“. Er hofft, dass die Einführung des DPP die Nachhaltigkeit der gesamten Modebeschaffungskette verbessert und die Transparenz in der Branche erheblich erhöht. Er weist jedoch auch darauf hin, dass dies ein langer und dynamischer Prozess ist. „DPPs werden hoffentlich die Nachhaltigkeitsleistung über einige Jahre hinweg verbessern, da die EU immer strengere Anforderungen an die Offenlegung von Daten stellt.“

Laut Zhang könnte eine Herausforderung für den DPP das Engagement sein. Verbraucher:innen könnten sich nicht die Mühe machen, den Code zu scannen, betont er. Untersuchungen von Bain & Company zeigen eine Diskrepanz zwischen der Bereitschaft von Modekonsumenten:innen, nachhaltig zu handeln, und der tatsächlichen Häufigkeit, mit der sie nachhaltige Entscheidungen treffen. Diese Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten war am ausgeprägtesten, wenn es um Maßnahmen ging, bei denen die Verbraucher:innen Informationen sammeln und überprüfen mussten. Es ist also möglich, dass Kund:innen nicht aktiv werden und den Code scannen. Vielleicht aber hilft die Einfachheit des DPP, den zusätzlichen Schritt zu gehen. Ob mithilfe der zusätzlichen Informationen auch wirklich nachhaltige Entscheidungen getroffen werden, steht auf einem anderen Blatt.

Mit dem digitalen Produktpass sollen Produkte länger im Kreislauf bleiben

Ana Kristiansson, Expertin für digitale Produktpässe, ist der Meinung, dass „DPPs eine äußerst positive Sache sind, da vollständige Transparenz in den Abläufen eine engere Beziehung zu Lieferanten, Herstellern und Kunden ermöglicht. Marken haben jetzt die Möglichkeit, ihre Verbraucher aufzuklären.“

Kristiansson gründete Portia, eine Cloud-Lösung, die Marken bei der Integration von DPPs unterstützt und eine vollständige Kreislauflösung für den gesamten Lebenszyklus eines Produkts darstellen will. Eine ganzheitliche Sichtweise ist für Kristiansson von entscheidender Bedeutung. Mit ihrer Lösung verbindet sie Marken mit ihren Verbrauchern:innen, Großhändlern und Vertriebspartnern über ein einziges Portal. Das soll alle beteiligten Parteien zur Kreislaufwirtschaft ermutigen. „Es geht darum, Produkte immer länger im Kreislauf zu halten.“

Der erste Schritt auf einem langen Weg

Die Einführung von DPPs – und die EU-Verordnungen, die ihre Durchsetzung vorsehen – ist zweifellos ein Fortschritt für eine Branche, die ihre nicht nachhaltigen Praktiken lange Zeit hinter einer Flut von Greenwashing verstecken konnte.

Es gibt aber noch einige Herausforderungen zu bewältigen. Kristiansson weist darauf hin, dass Strafen eingeführt und durchgesetzt werden müssen, damit DPPs Wirkung zeigen. Zhang erklärt, dass Lieferketten, an denen viele Subunternehmer beteiligt sind, schwer nachverfolgbar sind. Und insgesamt braucht der DPP noch viel mehr Forschung. „Nicht nur akademische, sondern auch angewandte Forschung in der Industrie, um ihn zu einem echten Erfolg zu machen“, so Zhang.

Die bevorstehende Verpflichtung, Produkte mit einem DPP zu versehen, setzt Modemarken auf jeden Fall unter Druck. Alle Informationen darüber, wie ein Artikel hergestellt wurde – die Lieferkette, die Materialien, die Chemikalien, die Person, deren Hände den Stoff zu tragbarer Kleidung vernäht haben – müssen offengelegt werden. Hoffen wir, dass Verbraucher:innen die Informationen zu nachhaltigen Entscheidungen nutzen werden.

Krise bei den Online-Retouren: Neue Technologien könnten die Auswirkungen auf die Umwelt abmildern

Online-Retouren von Kleidung verursachen enorme CO2-Emissionen – und die Artikel landen oft auf der Mülldeponie. Verschiedene Technologien sollen die Emissionen und Abfälle durch Rücksendungen minimieren.

„The Good, the Bad and the Ugly“: Wie soziale Medien das Leben indigener Jugendlicher prägen

Soziale Medien können soziale Vorteile mit sich bringen. Bei jungen, indigenen Menschen können sie aber auch Wunden vertiefen.

KI hat einen großen versteckten Wasserfußabdruck – aber es gibt Lösungen gegen ihren unstillbaren Durst

In unserer digitalen Welt geht nichts ohne Rechenzentren. Aber der Wasserfußabdruck ihrer Kühlsysteme bedroht die Wasserversorgung in dürregeplagten Regionen.

Blick auf die Bühne der re:publica 2025
republica GmbH
Wie steht es um die digitale Gesellschaft? Unsere Highlights der re:publica 2025 zum Nachschauen

Ende Mai fand die alljährliche Konferenz re:publica, die eigentlich ein „Festival für die digitale Gesellschaft“ ist, in Berlin statt. Das Bühnenprogramm gibt es online zum Nachschauen – hier kommen unsere Tipps!

Public Interest AI: Künstliche Intelligenz für das Gemeinwohl braucht ein anderes Technologieverständnis

KI, die dem Gemeinwohl und Klimaschutz dient? Dafür muss sie anders gestaltet sein als ihre Big-Tech-Geschwister. Stichworte für Public Interest AI oder „AI for Good“ sind Open Source, Überprüfbarkeit und Gleichberechtigung. Theresa Züger forscht dazu am HIIG.

Zum Ende von Windows 10: „End of 10“ gibt deinem alten PC ein neues Leben

Wenn im Oktober der Support für Windows 10 ausläuft, muss das nicht das Ende deines Computers sein. Die Kampagne „End of 10“ zeigt, wie du ihn mit einem neuen Betriebssystem schnell, sicher und umweltfreundlich weiter nutzt.

Die KI von morgen, das Problem von heute: Wie giftiger Elektroschrott uns und dem Planeten schadet

Generative KI (GAI) erobert die Welt – in mehr als einer Hinsicht. Eine neue Studie beleuchtet die weitestgehend unbekannten Auswirkungen von Elektroschrott und zeigt, was dagegen getan werden kann.

„Rechenzentren werden den Hauptanteil an den CO2-Emissionen der Digitalisierung haben.“ Ralph Hintemann (Borderstep Institute) im Interview

Rechenzentren sind für einen hohen Energieverbrauch verantwortlich und der Hype um KI lässt diesen rasant in die Höhe schnellen. Das ist klar. Dazu kommen noch weitere ökologische Herausforderungen, die weit weniger bekannt sind. Darum geht es in diesem Interview mit Ralph Hintemann, Gesellschafter und Senior Researcher am Borderstep Institut. Und wir werfen einen Blick darauf, was getan werden muss.