Wem gehört die Welt? Tagung „DIY-Kulturen“ in Tutzing

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Häkelkunst schmückt die evangelische Akademie.

In den letzten Jahren haben Kulturen des Selbermachens großen Aufwind erfahren, neue Spielarten des Kollektivs manifestieren sich allerorts. Die Tagung "DIY-Kulturen" der Stiftungsgemeinschaft anstiftung&ertomis vergangenes Wochenende im idyllischen Tutzing hatte sich nicht weniger vorgenommen, als diese Projekte als eine Bewegung zu definieren. Gelungen ist das nur teilweise.

Autor*in Sarah-Indra Jungblut, 01.11.12

Sie bilden verdichtete Knoten im städtischen Gewebe der aneinander Vorbeilaufenden und nebeneinander Herlebenden. Sie stellen konkrete und digitale Orte zur Sammlung von Wissen. Sie betonen Aktivismus im Kollektiv. Im urbanen Raum manifestieren sie sich als selbstgezimmerte Ausrufezeichen durch die Herstellung von Kontrasten: mit erdverkrusteten Händen sitzen ihre Akteure an Laptops und zimmern inmitten dicht besiedelter Stadtgebiete Gemüsebeete, Lastenräder und Architekturen aus Vorgefundenem. Was zählt ist anpacken und selber machen. Dabei werden Materialien, Kleider, sogar ganze Gebäude recycelt. Aber wie lassen sie sich beschreiben, was sind die Gemeinsamkeiten der neuen „DIY-Kulturen“ wie urbane Gemeinschaftsgärten, Open Source-Modeplattformen, Repair-Cafés, Fablabs, Leihläden und offenen Werkstätten?

Vieles mag einem bekannt vorkommen an diesen Projekten „neuen“ Typs: Gärten gibt es seit Menschengedenken, Handarbeit war mal weibliche Haushaltstätigkeit mal Protestkultur (wie z.B. schon die strickenden Tricoteusen im 18./19. Jahrhundert, so Prof. Dr. Elke Gaugele) und schon die 68er experimentierten mit den verschiedensten Wohn-, Lebens- und Arbeitsformen – und sind daran oft genug mehr oder auch weniger heldenhaft gescheitert. Aber was ist das wirklich neue an diesen Projekten, warum kann man sie mit Christa Müller (anstiftung&ertomis) als „Neo-Ökos“ oder „Ökos 2.0“ (Daniel Überall, Kartoffelkombinat, Stadtimker.de, anstiftung&ertomis) bezeichnen?

Die Kommandozentralen antworten nicht mehr

An erster Stelle lassen sich die Akteure in einer bestimmten Zeit verorten, in der Epoche des Überflusses, des Massenkonsums – und einer fortschreitenden Umweltzerstörung durch eine Wirtschaft, die Mensch und Erde dem Profitstreben unterordnet. DIY-Kulturen sind Gegenmodelle zum Glauben an endlosen Fortschritt samt seinem Wachstumsgedanken. Und eine Antwort auf eine Politik der Leerstellen, die in Expertentum verfangen ist. Denn: „Die Kommandozentralen antworten nicht mehr!“ zitiert Christa Müller den Soziologen Hartmut Rosa. Hierauf reagieren die selbstgemachten Ökos 2.0 mit einem eigene Räume erschaffenden und Orte erschließenden Aktionismus für eine bessere Welt frei nach dem Motto „Her mit dem schönen Leben!“sofort und jetzt und hier – und das: gemeinsam! Der Aktionismus ist eine Hinwendung zum Lokalen und Kleinteiligen und eine Abwendung von einer Politik, von der sich nicht mehr allzuviel versprochen wird. Wie Caroline Claudius vom Münchner Gemeinschaftsgarten „o´pflanzt is!“ sagt: „Wir müssen uns auf uns selbst verlassen!“

„Her mit dem schönen Leben!“

Aber was ist das gute Leben? Caroline Claudius sieht es allem voran als ein in Beziehung treten mit Lebensmitteln und Gemeinschaften z.B. durch die Erfahrung des Gärtners. Abstrakten Produktionskreisläufen werden reale Erlebnisse gegenübergestellt in dem Moment, in dem Samen in die Erde gesteckt und Möhren wieder herausgezogen werden. In einem Garten lassen sich Ernährungskreisläufe und Prinzipien der Substitenz nachvollziehen. Auch andere Projekte kreisen alltagsnah um die Produktion unserer Lebensmittel, wie z.B. das Kartoffelkombinat. Mit der genossenschaftlich organisierten Biokiste für „Ahnungsvolle“, wie Daniel Überall die Zielgruppe bezeichnet, werden dem regionalem und saisonalem Obst und Gemüse auch Geschichten und Beziehungen beigepackt. Die Reise der Kartoffeln auf unseren Teller lässt sich nicht nur bis zum Griff ins Supermarktregal zurückverfolgen, sondern bis zum Produzenten – dem Gärtner, mit dem man beim Hoffest schon zusammen am Feuer saß. Der anonymen Supermarktkartoffel werden reale Erfahrungen gegenübergestellt.

„We must see everything as unfinished and we have the rights to change it!“

Mit diesen Worten verweist der per Telefon der Tagung zugeschaltet radikale DIY-Designer und Mitgründer der Open Design City in Berlin Jay Cousins auf die grundlegenden Gedanken der Inbesitznahme der eigenen Welt. In den sozialen Praxen der Aneignung von Stadt, Welt und Produktionsmitteln steckt ein neues Verhältnis zu den Dingen, so Andrea Baier, Soziologin bei der anstiftung & ertomis. Das gute Leben ist damit auch Eigenermächtigung und die Freiheit der Ausgestaltung der eigenen Welt. Im Self Repair Manifest wird formuliert: „If you can´t fix it you don´t own it! „. Oder wie dies Cecilia Palmer von Fashion Reloaded, dem Netzwerk zur Demokratisierung von Design, das umformuliert: “ It´s not yours if you can´t open it!“. In Bezug auf Mode wird die Schere zum 1A-Werkzeug, um Kleidung zu öffnen und dies der erste Schritt zur Inbesitznahme eines Stücks Massenware.

Selbermachen heisst auch, aus der Passivität des Konsumenten herauszutreten und zum Protagonisten des eigenen Lebens zu werden. Statt sich der den Dingen eingeschriebenen Obsoleszenz und Schnelllebigkeit als Motor des Massenkonsums zu ergeben, werden eigene, alternative Lösungen gesucht, Dinge repariert und neu entworfen. Dabei werden die Grenzen von Besitz aufgebrochen, das Beharren auf Urheberschaft wird obsolet. Wichtiger sei es, so Cousins, sich über bereits vorhandene Lösungen auszutauschen und sie gemeinsam weiterzuentwicklen. Repair-Cafés, Gärten und Open Source-Plattformen werden zu Orten geteilter Erfahrungen, im Austausch und der Vernetzung entstehen Wissensallmenden.

Die Dilettanten sind am Werk

In den Kulturen des Selbermachens geht es nicht darum, der Handwerksgilde das Wasser abzugraben, sondern um Selbstermächtigung im Kontext von Rationalisierung und Massenkonsum. Die Blickrichtung ist dabei bewusst dilettantisch. Es gilt mit Vorgefundenem und bedeutungslos Gewordenem, mit Geschichten und Erfahrungen statt Expertenwissen zu arbeiten. Die wichtigste Organisationsform ist das Projekt, zu Beginn steht meistens kein fertiger Plan sondern ein zeitlich offener Prozess wird angestoßen. Aus den unterschiedlichsten Menschen, Holzresten, Erzählungen, Tand und Schrott entstehen so Stück für Stück neue Räume. Die konkreten Orte und digitalen Knoten verstehen sich zumeist als offene „Optionsräume“, die zur Mitgestaltung und Weiterentwicklung einladen, niemals aber reine Dienstleistung sein wollen.

Von Projekten zur Bewegung

Indem sie alternative Wege der Steigerung des Wohlbefindens ohne weiteren Konsum suchen begeben sich sich die Akteure der DIY-Kulturen schon jetzt auf den Weg zu einer Postwachstumsökonomie, wie sie der Soziologe Niko Paech in Anbetracht des nahenden „Peak Everything“ fordert. Als „Postwachstumsökonomie“ wird eine Wirtschaft bezeichnet, die auf einem reduzierten Konsumniveau ohne Wachstum basiert. Damit einher geht der partielle Rückbau industrieller und global arbeitsteiliger Wertschöpfungsprozesse zugunsten der Stärkung lokaler und regionaler Selbstversorgungsmuster. Paech nennt fünf Entwicklungsschritte auf dem Weg zu einer Postwachstumsökonomie: Entrümpelung und Entschleunigung, Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung, Regionalökonomie, stoffliche Nullsummenspiele im Sinne von Nutzungsdauerverlängerung und Nutzungsintensivierung und institutionelle Innovationen. Leider blieb das Konzept der Postwachstumsökonomien im Rahmen der Konferenz sehr schwach präsentiert, da Niko Paech und Silke Helfrich eher damit beschäftigt waren, die Begriffe der Postwachstumsökonomie und der Commons voneinander abzugrenzen.

Nicht von ungefähr kommt die „Projekthaftigkeit“ der Initiativen, nutzen sie doch meistens zeitlich befristete Lücken, Brachen und Leerstellen. Für Städte als Ganzes ist zu hoffen, dass sich der kollektive „Eigennutz“ der sehr engagierten Akteure über ihre Zwischennutzung hinaus in Stadt und Gesellschaft als ein tatsächlicher Wandel hin zu enkeltauglichen Lebens- und Arbeitswelten manifestieren kann. Im Moment sind die Verhältnisse der Akteure eher prekär. Die „young urban poor“ sind allzuoft mehr als beschäftigt um Projekte, Ideen und meist unerlässliche „geldbringende Tätigkeiten“ vereinen zu können. Es gilt daher auch die Frage zu beantworten, wie die finanzielle Situation der Projekte und ihrer Akteure gestärkt werden kann, um im aktuellen System überleben und sich weiterentwickeln zu können.

Sehr voll gepackt war das Programm der Konferenz – und dabei kam leider die Zeit der gemeinsamen Diskussionen und des Austausches zu kurz. Gerade der ist aber so wichtig, um den zarten Pflänzchen alternativer und kreativer Kulturen tiefe Wurzeln wachsen zu lassen. Zur Verstetigung und Begründung einer Bewegung der DIY-Kulturen regte Christa Müller ein gemeinsam verfasstes Manifest aller Akteure an. Denn im Rahmen der Tagung nur vage beantwortet blieb die Frage nach der Neuartigkeit der Projekte. Vielleicht ist das Neue ein nach innen gerichtetes Politikverständnis der kleinen Taten. Und die Ankunft einer kritischen Haltung in der Mitte der Gesellschaft: innerhalb der Projekte kommt eine wilde Vielzahl an Menschen zusammen, deren gemeinsamer Aktionismus bisher äußerst unwahrscheinlich war.

Ohne Reibungen ist eine große Transformation der Gesellschaft wohl nicht zu haben. Denn: „Für Veränderung müssen sich Menschen auch immer miteinander streiten“, so der Soziologe Andreas Willisch vom Thünen-Institut. Reibungsflächen gibt es genug: Institutionen, Ämter, Behörden, Stadtentwickler aber auch Mitstreiter – im wahrsten Sinne des Wortes! – bereiten nicht den leichtesten Boden für Menschen mit frischen Ideen – aber dass sich allerorts Freiräume finden lassen stimmt hoffnungsvoll. Die Welt gehört niemandem, aber gestalten sollten sie viele. Der Ring ist eröffnet!

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