Tip me: Ein digitales Trinkgeld für die Produzent*innen deiner Kleidung

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© tip me

Wie wäre es, wenn du den Menschen, die deine Produkte herstellen, deine Wertschätzung zeigen könntest, indem du ihnen ein Trinkgeld gibst? Tip me ermöglicht das.

Autor RESET :

Übersetzung RESET , 17.12.20

In der gesamten westlichen Welt ist billige Kleidung allgegenwärtig. Bei Modegiganten wie Primark oder H&M ist es für Verbraucher*innen ein Leichtes, eine neue Hose zum Preis eines Restaurantessens zu kaufen oder ein kaum getragenes T-Shirt zu ersetzen, weil es nicht mehr begeistert. Doch für die niedrigen Preise müssen Menschen am Anfang der Lieferkette mit mageren Löhnen und unfairen Arbeisbedingungen auskommen.

Der deutsche Unternehmer Jonathan Funke war von den negativen Auswirkungen der Bekleidungsindustrie zunehmend frustriert. Nachdem er mit Kund*innen über ihre Kauferfahrungen gesprochen hatte, erkannten er und seine Mitbegründer*innen, dass es mehr als nur Preisschilder gibt: Wenn man sich einem bunten Meer endloser Auswahlmöglichkeiten gegenübersieht, ist es schwer, ein Gefühl für die Geschichte eines jeden Artikels zu bekommen. Jenseits der „Made in…“-Etiketten, die diskret in jedes Kleidungsstück eingenäht sind, liegen viele Unbekannte zwischen den Verbraucher*innen in einem Land und den Produzent*innen auf der anderen Seite der Welt.

Funke fragte sich, was passieren würde, wenn er diesen Teil des Einkaufserlebnisses beeinflussen könnte. Was wäre, wenn Kund*innen die Möglichkeit hätten, den Menschen, deren Produkte sie kaufen, ein Trinkgeld zu geben, so wie sie einem Kellner, der ihnen ein gutes Essen serviert hat, ein Trinkgeld geben würden? Also gründete Funke 2018 tip me: ein Unternehmen, dessen Mission es ist, ein globales Trinkgeldsystem für Fabrikarbeitende zu schaffen.

Wie gibt man jemandem am anderen Ende der Welt Trinkgeld?

Ein Eckpfeiler der Strategie von tip me ist es, Kund*innen zu ermöglichen, Arbeiter*innen direkt zu bezahlen, wenn sie online einkaufen. Die Unternehmen, die sich bei tip me anmelden, zahlen eine Gebühr für die Nutzung der Funktion, aber sie verwalten und verteilen die Trinkgelder nicht selbst. Tatsächlich umgeht tip me dabei die Unternehmen komplett. „Wir kennen jeden einzelnen Arbeiter“, erklärt Funke. „Wenn eine Firma zu uns kommt und sagt, dass sie tip me nutzen möchte, kontaktieren wir alle ihre Fabriken und erhalten die Informationen der Arbeiter*innen über das Lohnsystem: ihre Namen, Stunden, Telefonnummer und Bankverbindung. Wir richten für jede Person ein Konto in unserem internen Verwaltungssystem ein, zusammen mit einem entsprechenden Profil. Dann berechnen wir, wie viel Trinkgeld sie bekommt, und schicken das Trinkgeld direkt auf ihr Bankkonto. Außerdem benachrichtigen wir sie per WhatsApp oder SMS, sobald ihr Trinkgeld eingegangen ist.“

Aus der Sicht der Kund*innen sieht tip me ähnlich aus wie die Option zum CO2-Ausgleich, die beim Kauf eines Flugtickets auftaucht. Die Funktion ist auffällig genug, um nicht übersehen zu werden, unterbricht aber nicht den Kaufprozess, wenn kein Interesse besteht. „Es gibt nichts, was man herunterladen oder installieren muss“, fährt Funke fort. „Wir erklären, dass dies die Person ist, die das Trinkgeld erhält, und beschreiben, was sie damit tun möchte. Dann wählt man sein Produkt aus, klickt auf ‚Trinkgeld hinzufügen‘ und wählt, wie viel man geben möchte – das war’s!“ Schließlich wird jedes Trinkgeld in einem digitalen Pool gesammelt, der dem jeweiligen Produktionsstandort entspricht, und gerecht unter den Arbeiter*innen aufgeteilt, die das Produkt hergestellt haben. „Das ist super wichtig“, betont Funke: „Dass das Trinkgeld von den Menschen vor Ort aufgeteilt wird.“

Ein digitaler Stupser – der das Verhalten und die Wahrnehmung der Verbraucher*innen verändern kann

Verbraucher*innen haben das Trinkgeldverfahren bisher sehr gut angenommen. „Ich war extrem überrascht, wie viele Leute Trinkgeld geben. Ursprünglich hatte ich erwartet, dass vielleicht fünf bis 15 Prozent der Verbraucher*innen dies tun würden. Aber im Laufe des letzten Jahres hat etwa die Hälfte aller Kund*innen Trinkgeld gegeben“, erklärt Funke. Das liegt unter anderem daran, dass die Käufer*innen in vielen Fällen eine persönliche Verbindung zu ihren Sachen herstellen wollen. „Es entspricht wirklich dem Bedürfnis der Menschen zu verstehen, woher ihre Produkte kommen; sich mehr mit der Herkunft eines jeden Produkts verbunden zu fühlen und auch an der Verteilung des globalen Wohlstands teilzuhaben.“

© tip me tip me sendet des Trinkgeld direkt den Produzent*innen zu – und informiert sie per WhatsApp oder SMS über die Zahlung.

Fast-Fashion-Läden stellen Quantität vor Qualität und lehren ihr Zielpublikum, sechs Monate alte Outfits wegzuwerfen und Platz für die neue Saison zu machen. Tip me dagegen will eine nachhaltigere Praxis fördern, indem die Käufer*innen ermutigt werden, sich selbst zu fragen: „Welchen Wert hat dieses Kleidungsstück für mich persönlich, und wie kann ich diesen Wert sinnvoll würdigen?“

Funke betont auch die größere Bedeutung eines globalen Trinkgeldsystems. Viele wissen, dass bestimmte Marken ihre Arbeiter*innen am Ende der Lieferkette schlecht behandeln und schlecht bezahlen – und vermeiden es dennoch, sich damit zu beschäftigen. Aber tatsächlich das Leben und den Lebensunterhalt der Menschen hinter jedem Produkt zu sehen, fördert eine engagiertere und empathischere Denkweise.

Der alternative Ansatz von tip me kommt bei den Nutzer*innen gut an, vor allem in Ländern wie den USA, wo die Praxis des Trinkgelds bereits tief in Wirtschaft und Gesellschaft verankert ist. Funke betont auch, dass sich die meisten im Westen lebenden Menschen ihrer wirtschaftlichen Privilegien im Vergleich zu den Ländern, in denen ihre Waren in den meisten Fällen hergestellt werden, bewusst sind. Gleichzeitig „geht es um so viel mehr als nur um das Geld“, stellt Funke klar. „Es geht um Respekt und darum, Danke zu sagen. Verbraucher*innen wollen ihre Dankbarkeit zeigen, und genau das kommt bei den Arbeiter*innen an. Wenn wir die Arbeiter*innen fragen, wie sie sich fühlen, wenn sie Geld vom anderen Ende der Welt bekommen, ist die Antwort, die wir oft bekommen, ‚zum ersten Mal fühle ich mich gesehen in dem, was ich tue‘ oder ‚ich fühle mich respektiert dafür, dass ich jeden Tag aufstehe und diese Arbeit mache‘.“ Die App teilt den Nutzenden auch mit, wofür ihr Trinkgeld ausgegeben wurde und gibt Einblicke in das Leben und die Kultur der Arbeitenden.

Ein globales Trinkgeldsystem: Gegen unfaire Lieferketten von der Mode bis zum Essen

Im Moment arbeitet tip me mit zwei Marken zusammen, bis Ende des Jahres sollen fünf weitere dazu kommen. tip me achtet streng darauf, dass die Fabriken, mit denen sie zusammenarbeiten, die Menschenrechtsbestimmungen einhalten, und legt Wert darauf, dass die Lieferketten transparenter und ethischer werden. „Es macht keinen Sinn, Trinkgelder an Kinderarbeiter zu geben, oder an Menschen, die Sklavenarbeit leisten, oder an solche, die nicht das Recht haben, eine Gewerkschaft zu gründen. Wir müssen sicherstellen, dass jede Fabrik die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation erfüllt.“

Ist ein globales Trinkgeldsystem effektiver als andere Möglichkeiten, gegen unfaire Lieferketten vorzugehen, wie etwa der Kampf für höhere Löhne für die Hersteller insgesamt? Funke antwortet: „Ich glaube nicht, dass es besser oder schlechter ist als andere Methoden. Sie sind einfach unterschiedlich.“ Er zieht einen Vergleich zwischen Organisationen wie Sea Watch, die Rettungseinsätze im Mittelmeer durchführen, und Flüchtlingsorganisationen, die sich für einen Politikwechsel einsetzen: Auch tip me arbeitet eher von Fall zu Fall, als dass es sich für einen systemischen Wandel einsetzt. Aktivismus auf der Makroebene ist nach Funke sehr wichtig; gleichzeitig hat tip me den Vorteil, dass die Trinkgeld-Funktion nicht gegen den Strich bestehender Verhaltensweisen und Prozesse geht. „Die Informationen des Arbeiters sind in die Kaufentscheidung eingewoben. Es ist keine externe Sache.“

Das Unternehmen hat mit der Textilindustrie begonnen, weil der Modehandel eine große Online-Präsenz hat. Das macht es einfacher, einen Fuß in die (digitale) Tür zu bekommen. „Und es ist sehr einfach, einen einzelnen Arbeiter in der Bekleidungsindustrie ausfindig zu machen“, fügt Funke hinzu. „Aber in Zukunft wollen wir auch in den Lebensmittelbereich einsteigen.“ Das könnte aufgrund der Komplexität der Lieferketten in der Lebensmittelbranche einige Zeit dauern, aber trotz der Herausforderungen beim Eintritt in verschiedene Märkte sind die Zeichen insgesamt ermutigend. Einige Marken sind gerne bereit, für tip me zu zahlen, um ihre ethische Glaubwürdigkeit zu stärken, während Verbraucher*innen dankbar für die Transparenz und Gerechtigkeit sind, die das Feature bietet. Außerdem ist tip me von Anfang an wirkungsvoll. „Wir können schon heute damit beginnen, die Mentalität der Verbraucher*innen zu verändern!“ sagt Funke. „Wenn Verbraucher*innen sehen, wer ihre Schuhe hergestellt hat, verstehen sie, dass ihre Kaufentscheidungen echte Menschen betreffen (und wer diese Menschen sind). In unseren Interviews mit Nutzenden sagte mindestens die Hälfte, dass sie deshalb in Zukunft anders konsumieren werden.“

Im Gegensatz zu einem Fairtrade-Zertifikat, das für Verbraucher*innen etwas abstrakt ist, zeichnet tip me stattdessen ein Bild des Individuums. „Das ist so viel aussagekräftiger“, findet Funke. „Letztendlich denke ich, dass unsere große Vision ist, dass in zehn Jahren der Online-Kauf von Lebensmitteln und Kleidung so sein wird wie der Kauf auf dem Bauernmarkt. Wenn man auf dem Markt kauft, unterhält man sich mit jemandem, der die Kartoffeln tatsächlich aus dem Boden geholt hat. Und auch wenn manche Lebensmittel nicht in Deutschland angebaut werden können – Kaffee oder Baumwolle zum Beispiel -, so spricht doch nichts dagegen, auch bei anderen Waren des täglichen Lebens das Gefühl eines Bauernmarktes zu haben. Und wenn die Menschen diese direkte Verbindung zur Herkunft des Produkts haben, wird sich etwas ändern. Sobald man diese Transparenz hat, wird es so einfach, das Richtige zu tun.“

Dieser Artike ist eine Übersetzung von Sarah-Indra Jungblut. Das Original erschien zuerst auf unserer englischsprachigen Seite.

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