The Ocean Cleanup: Lassen sich unsere Ozeane für 7,5 Milliarden Euro von Plastikmüll befreien?

© The Ocean Cleanup

In unseren Meeren treibt immer mehr Plastikmüll. Das Projekt The Ocean Cleanup will das Problem angehen – aber wie wirksam ist es wirklich? Und wie steht es um andere Technologien? Spoiler: Die Lösungen liegen woanders.

Autor*in Sarah-Indra Jungblut, 24.10.24

Übersetzung Lana O'Sullivan:

Der Niederländer Boyan Slat hat sich mit seinem Projekt The Ocean Cleanup (TOC) schon vor vielen Jahren aufgemacht, um das Problem mit dem Plastikmüll im Ozean zu lösen. Das erste Mal von sich reden gemacht hat er 2014. Da war er gerade 20 Jahre alt, was – neben dem sehr ambitionierten Plan – sicher auch dazu beigetragen hat, dass sein Projekt großes Medienecho bekam. Slats großes Ziel war damals wie heute: Den Great Pacific Garbage Patch komplett zu beseitigen.

Der Great Pacific Garbage Patch ist der größte bekannte Müllstrudel im Meer. Er befindet sich im zentralen Nordpazifik und erstreckt sich über ein Gebiet von ca. 1,6 Millionen Quadratkilometern. An der Wasseroberfläche dümpeln hier ca. 45.000 bis 129.000 Tonnen Plastik – von Plastiktüten und –verpackungen über Flaschen bis hin zu Fischernetzen.

Seit der ersten Ankündigung vor 10 Jahren macht The Ocean Cleanup alle paar Jahre eine Meldung zu großen Erfolgen oder Misserfolgen. Im Herbst 2024 hat Boyan Slat verkündet, dass er mit seiner Technik den kompletten Müllstrudel im Pazifik innerhalb von 10 Jahren aufräumen kann – zu einem Preis von lediglich 7,5 Milliarden Dollar. Wenn es gut laufen würde, könnte es sogar noch günstiger werden, so Slat.

Ein „Ozeanstaubsauger“ gegen den Plastikmüll

Die Technik hinter Slats Projekt ist im Grunde einfach: Das sogenannte „System 03“ besteht aus einer 2,2 Kilometer langen Barriere, die zwischen zwei langsam fahrenden Schiffen geschleppt wird. Der in der Barriere abgefangene Plastikmüll wird in ein Netz getrieben. Ist es voll, wird es aus dem Wasser gezogen und der Müll auf den Schiffen abgeladen. Den Weg zu besonders dichten Plastikteppichen weisen Überwachungsdaten und KI-Modellierung. Das System soll nach eigenen Angaben so effektiv sein, dass es alle fünf Sekunden die Fläche eines Fußballfeldes reinigen kann.

© The Ocean Cleanup
Auf diesem Bild ist die Barriere zu sehen, in deren Mitte sich das Auffangnetz befindet.

Es ist verlockend, daran zu glauben, dass dies die Lösung für die Hinterlassenschaften im Meer ist. „Wäre es nicht großartig, eine so einfache Lösung zu haben, bei der ‘Ozeanstaubsauger‘ ein normales Leben ermöglichen“, fragt Ewoud Lauwerier, Experte für Kunststoffpolitik bei OceanCare. Für die breite Öffentlichkeit und die Industrie scheinen die Reinigungsprojekte auf jeden Fall attraktiv zu sein, was die Popularität von TOC zeigt. Aber ist das Ganze wirklich realistisch, lassen sich unsere Ozeane so einfach aufräumen? Und haben wir damit am Ende tatsächlich ein Problem weniger oder schaffen wir neue Probleme?

Technisch ist das „Müllfangen“ kein Problem

Dass die Technik funktioniert und damit große Mengen Plastik eingefangen werden können, hat The Ocean Cleanup schon mehrfach bewiesen. An sich sei das aber auch kein Hexenwerk, wie Mark Lenz, Meeresforscher am GEOMAR, im Interview mit RESET feststellt. „Boyan Slat hat im Prinzip nur das Konzept von Ölsperren weiterentwickelt. Er hat die Idee, treibendes Material an einer Barriere einzufangen und dann einzusammeln, für den Plastikmüll hochskaliert.“

Plastikmüll an Deck eines der Schiffe von The Ocean Cleanup.
© The Ocean Cleanup
Der Plastikmüll wird im Projekt TOC auf den Schiffen abgeladen und dann an Land transportiert.

Allerdings haben Umweltorganisationen und Forschende Zweifel, wie sinnvoll das ganze Unterfangen ist. Ein im Oktober 2023 erschienener Bericht der Environmental Investigation Agency (EIA) und OceanCare hebt die schädlichen Auswirkungen von „Schnellschuss-Technologien“ zur Säuberung der Ozeane hervor. Und auch andere Studien belegen, dass TOC und ähnliche Technologien ineffektiv und kapitalintensiv sind. Oft werden sie sogar zu einer Bedrohung für genau jene Arten und Ökosysteme, denen sie eigentlich helfen wollen.

Auch Mark Lenz ist kritisch – und sieht die Lösungen an ganz anderer Stelle.

An Land wäre ein solcher Eingriff nicht möglich

Der Meeresbiologe Mark Lenz betreut und koordiniert am GEOMAR ein Forschungs- und Ausbildungsprogramm für Masterstudierende und hat viel zum Thema Plastik geforscht. Müllsammelaktionen auf dem offenen Meer seien extrem aufwendig, so Lenz. „Man muss Schiffe nutzen, um das Material einzusammeln und abzutransportieren.“ Und der Weg ist weit, weil sich die Müllstrudel auf dem offenen Meer befinden. Da Schiffsdiesel besonders umweltschädlich ist, entstehen bei den Reinigungsaktionen hohe CO2-Emissionen. Studien haben ergeben, dass 200 schiffsbasierte Reinigungsgeräte die Weltmeere selbst bei einem Dauerbetrieb über mehr als 100 Jahren nicht reinigen würden, aber erhebliche Auswirkungen auf das Klima hätten.

Und natürlich lassen sich nicht alle Teile einsammeln. Vor allem kleine und kleinste Kunststoffteile, das sogenannte Mikroplastik, gehen durch die Netze.

Mikroplastik findet sich auch im atem von Delfinen.

Mikroplastik: Life in plastic – it’s not fantastic!

Die übermäßige Abhängigkeit der Gesellschaft von Kunststoffen beeinträchtigt fast alles auf diesem Planeten physisch. Nicht nur, weil die Kunststoffindustrie die am schnellsten wachsende Quelle für industrielle Treibhausgasemissionen weltweit ist – auch wenn das schon Grund genug ist. Sondern auch, weil sich das Plastik mittlerweile fast überall in der Umwelt befindet.

Die Liste der möglichen und unmöglichen Orte, an denen Wissenschaftler:innen Mikroplastik gefunden haben, ist lang. Auf dem höchsten Berg, im tiefsten Ozean, im menschlichen Blut – und sogar im Atem von Delfinen.

Dazu kommt: Die groß angelegten Säuberungsaktionen wie The Ocean Cleanup sind massive Eingriffe in ein fragiles Ökosystem. Gerade dort, wo Strömungen den Müll sammeln, treibt es auch kleine Meereslebewesen hin. In Hawaii beispielsweise konzentrieren sich 100 Prozent der Fischlarven und 95 Prozent des schwimmenden Plastiks auf nur 8 Prozent der Meeresoberfläche.

„Viele Planktonorganismen haben kein festes Exoskelett, um sich vor äußeren Einwirkungen zu schützen, das gleiche gilt für Quallen, Larven und Fischeier. Wenn man im offenen Ozean eine feste Barriere ausbringt, werden sie dagegen gedrückt und dadurch verletzt. Das ist wie bei Insekten, die gegen eine Windschutzscheibe prallen. Wahrscheinlich werden sie zudem zwischen den Müllteilen zerrieben.“, sagt Mark Lenz. Und so ganz genau weiß man auch noch gar nicht, was passiert, wenn Aufräumaktionen mit festen Barrieren über große Gebiete hinweg stattfinden. „Wenn man so was an Land machen wollte, müssten zunächst Umweltverträglichkeitsgutachten erstellt werden. Im offenen Ozean braucht es das nicht, weil es kaum entsprechende, internationale Gesetze gibt“, so Lenz.

Doch nicht nur kleine Meerestiere sind bedroht, sondern auch dickere Fische landen im Netz. Bei den Hochsee-Säuberungsaktionen von TOC im Jahr 2020 hat die Organisation Meeresschildkröten (einschließlich gefährdeter Arten), Haie, verschiedene Fischarten und Kopffüßer als Beifang gemeldet.

Das TOC-Team arbeitet zwar daran, unerwünschten Beifang mithilfe von Kameras und Bilderkennung ausfindig machen zu können, um diesen dann zu befreien. Ganz zu vermeiden wird dieser aber wohl nicht sein.

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht

Mit diesen erheblichen Auswirkungen auf Lebewesen ist der tatsächliche Nutzen von Aufräumarbeiten schwer einzuschätzen. Daher gibt es viele Forschende, die den Müll lieber sich selbst überlassen würden. “Die treibenden Materialien sind oft schon Teil des Ökosystems. Viele wirbellose Tiere siedeln sich darauf an und Fische verstecken sich gerne unter dem Treibgut“, berichtet Lenz. Verschwindet der Müll, geht ihr Lebensraum verloren. Plastikmüll im offenen Ozean ist also nicht ausschließlich schlecht für Meeresbewohner. Damit wird es schon fast zu einer philosophischen Diskussion, ob der Müll eingesammelt werden sollte oder nicht, gibt Lenz zu bedenken. Und nennt noch ein weiteres Beispiel:

„In den 1980ern ist die Küste von Alaska durch Öl verschmutzt worden und man hat sehr viel Aufwand betrieben, um diese Küste zu säubern. Damals wurde mit Wasserstrahlsystemen und Chemikalien gearbeitet, um Ölrückstände zu entfernen. Rückblickend gibt es Ökologen, die sagen, dass die Reinigung zumindest für die Küste am Ende schlimmere ökologische Folgen verursacht hat als die eigentliche Verschmutzung.“

Richten also TOC und ähnliche Projekte größeren Schaden an als der Müll selbst? Die finale Antwort steht noch aus. Sicher ist dagegen, dass Müllsäuberungen im offenen Meer viel zu spät ansetzen.

Den Müll im offenen Meer einzusammeln ist zu spät

„Den Müll ganz am Ende der Reise abzugreifen, kurz bevor die Teile in die Tiefsee absinken, behebt die Ursachen nicht“, so Lenz. Vielmehr dienen derartige Aufräumprojekte vor allem der Industrie, um vom eigentlichen Problem abzulenken. Natürlich kann man TOC und anderen medienwirksamen Projekten anrechnen, dass sie überhaupt erst die Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Gleichzeitig suggerieren sie der Öffentlichkeit aber, dass es eine einfache Lösung des Problems gibt.

Problematisch ist das vor allem, wenn dadurch andere, wesentlich sinnvollere Initiativen vernachlässigt werden und Probleme, die an Land gelöst werden könnten, aus dem Blick geraten.

Wie können die 7,5 Milliarden Euro sinnvoll eingesetzt werden?

„Mit den siebeneinhalb Milliarden Euro kann viel mehr erreicht werden, wenn das Geld anders eingesetzt wird“, davon ist Mark Lenz überzeugt.

Anstatt im offenen Meer unter widrigsten Bedingungen Müll einzusammeln, geht es vor allem darum, den Strom aus Plastik zu stoppen, bevor er sich überhaupt in die Natur ergießt. Dabei ist der allererste Schritt, grundsätzlich weniger Müll zu produzieren und Plastikprodukte zu vermeiden. Dann geht es darum, verantwortungsvoller mit dem Müll umzugehen. „Das geht nur über ein besseres Management. Aber in vielen Ländern sind einfach nicht die technischen Möglichkeiten gegeben, weil das Geld dafür fehlt. Genau da müssen wir ansetzen.“

Auch wenn unverzügliche und konsequente Maßnahmen eingeleitet würden, lässt sich der den Eintrag von Plastikmüll in die Umwelt nicht sofort stoppen. „Insofern kann man durchaus darüber nachdenken, den Müll auch wieder einzusammeln“, sagt Lenz. Allerdings macht es dann mehr Sinn, früher anzusetzen. Nämlich da, wo der Müll konzentriert und großteilig ist und noch nicht Teil des Ökosystems geworden ist. „Das können zum Beispiel Flussmündungen sein. Man hat auch dort Beifang, aber der steht dann eventuell in einem besseren Verhältnis zu der Menge an Plastik, die man entfernen kann.“

Aufräumen an Flüssen, Häfen und Stränden

Eine der Lösungen von The Ocean Cleanup, um Plastikmüll in Flüssen aufzufangen.
© The Ocean Cleanup
Eine der Lösungen von The Ocean Cleanup, um Plastikmüll in Flüssen aufzufangen.

Mit seinen „Interceptor Solutions“ arbeitet The Ocean Cleanup auch an High- bis Low-Tech-Lösungen, die Plastik aus Flüssen abfangen sollen. Und auch das in Amsterdam ansässige Unternehmen Great Bubble Barrier hat eine Technologie entwickelt, die mithilfe von Luftbläschen Plastik in Flüssen abfängt. Dennoch: Auch hier müssen die negativen Effekte auf Ökosysteme von den positiven Wirkungen aufgewogen werden. Die Auffangtechnologien in Flüssen sammeln nicht nur Plastikteile, sondern auch Organismen, Holz und anderes natürliches Treibgut auf. Forschende des Alfred-Wegner-Instituts betonen daher Regenwasserauffangbecken als eine umweltfreundlichere Alternative. Große Plastikteile werden hier näher am Ort der Freisetzung zurückgehalten und gelangen erst gar nicht in Bäche und Flüsse.

Viele Häfen auf der ganzen Welt verwenden Technologien zur Plastikabscheidung wie Seabins, die schwimmenden Müll von der Meeresoberfläche abschöpfen, indem sie Wasser in eine Auffangvorrichtung pumpen. Eine wissenschaftliche Auswertung ergab jedoch, dass sie nur geringe Mengen an Plastik auffangen (0,0059 Kilo pro Tag), dafür aber erhebliche Mengen an Seetang. Damit scheinen schwimmende Mülleimer in Häfen ein von vorneherein sinnloses Unterfangen zu sein.

Auch Strände brauchen Ruhezonen

Ähnliches gilt übrigens für Säuberungsaktionen an Stränden. Kommt hier schweres Gerät zum Einsatz, werden empfindliche Ökosysteme zerstört. Auch wenn Plastikmüll das Bild eines perfekten Strandes stört, leben Tiere und Pflanzen oft besser damit als mit invasiven Reinigungsaktionen.

Die manuelle Pflege, eine geringere Pflegefrequenz und die Ausweisung von Ruhezonen verringern dagegen den Druck auf Ökosysteme, wie eine Studie des Alfred Wegener Instituts empfiehlt.

Ein großer Teil des Plastikmülls wird vom Land angespült und alle Maßnahmen, die an Land umgesetzt werden, helfen, diesen Anteil zu schrumpfen.

Ein anderer Teil sind Fischernetze und andere Hinterlassenschaften der Fischerei. Hier könnte sehr viel gezielter angesetzt werden. Ein Beispiel dafür ist das Geisternetze-Projekt des WWF. „Seit 2016 arbeiten wir an diesem Projekt in Deutschland und haben in der Ostsee erfolgreich mehrere Tonnen Geisternetze geborgen“, erzählt Gabriele Dederer, Geisternetze-Referentin beim WWF Deutschland.

Um die Geisternetze ausfindig zu machen, setzt das Team Seitensichtsonar-Geräte ein, angesteuert werden die Fundorte mit einem Segelboot. Zudem können sich Taucher:innen an der Vorbereitung von Geisternetz-Bergungsaktionen beteiligen, indem sie über die App GhostDiver Funde dokumentieren und überprüfen.

Die Antwort ist an Land zu finden

Egal, wie viele Versuche, mit welcher Technik auch immer wir starten, um unsere Ozeane von Plastikmüll zu befreien: Das Problem kriegen wir nur in den Griff, wenn wir die Plastikflut an Land stoppen. Auf individueller Ebene Plastik zu vermeiden ist dabei kein unwichtiger, aber nur ein kleiner Teil der Lösung. Dringend nötig ist vor allem ein verbindliches, weitreichendes globales Abkommen zur Reduzierung der Plastikproduktion, das Unternehmen und Industrie in die Pflicht nimmt.

Mit dem UN-Abkommen gegen Plastikmüll laufen erste Verhandlungen. Wirkliche Ergebnisse gibt es allerdings noch nicht. Damit diese Gespräche erfolgreich verlaufen, müssen Regierungen mehr Druck von Bürger:innen und Zivilgesellschaft zu spüren bekommen.

Wichtig ist auch, Länder des globalen Südens, die oft unverhältnismäßig an den Auswirkungen des Plastikkonsums weltweit leiden, im Müllmanagement zu unterstützen. Technologien können hier ihren Platz haben – wenn sie an den richtigen Stellen eingesetzt werden.

Wie Citizen Science zur Brücke zwischen Bürger*innen und Politik werden kann, um gemeinsam das Problem Plastikmüll anzugehen, macht zum Beispiel Ghana vor. In dem afrikanischen Land werden bestehende Citizen-Science-Daten und -Netzwerke genutzt, um Datenlücken auf nationaler Ebene zu schließen und so zur globalen SDG-Überwachung und -Berichterstattung beizutragen. Mehr zu dem dem Projekt: Ghana setzt auf Citizen Science gegen Plastikmüll

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