Der Feinstaubgehalt war Neujahr am höchsten. 112 Mikrogramm pro Kubikmeter wurden am 1. Januar 2020 gemessen, fast fünfmal so viel wie an normalen Tagen, wegen der abgebrannten Böller und Raketen in der Nacht. Die Stickoxide dagegen, die vor allem durch Autos produziert werden, erreichten im Herbst davor ihre Rekordwerte. 69 Mikrogramm NO2 waren es Mitte September, 134 Mikrogramm NO Ende November.
Wer will, kann noch mehr Daten über die Luftqualität in der Hamburger Stresemannstraße finden. Die Messstation mit dem internen Kürzel 17SM zeichnet die Belastung an der dichtbefahrenen, vierspurigen Ausfallstraße digital auf und aktualisiert sie fortlaufend. Im Internet haben die Anwohner die Möglichkeit, sich zu informieren, bevor sie das Haus verlassen, Tag und Nacht. Ein fortschrittlicher Bürgerservice also?
Mitnichten, sagt Robert Heinecke, Gründer von Breeze Technologies. Sein Start-up analysiert mit Sensoren und Künstlicher Intelligenz die Schadstoffbelastung von Innenräumen und öffentlichen Plätzen – und hätte dafür gerne mehr Daten als ihm bislang zur Verfügung stehen. Häufig nämlich messen die öffentlichen Stationen nur einen Parameter. In der Luft finden sich aber wesentlich mehr Stoffe: Ozon, Ammoniak, flüchtige organische Verbindungen, Schwefeldioxid. Und, weiterer Nachteil: Beim Feinstaub ist es üblich, nur den Mittelwert der letzten 24 Stunden zu veröffentlichen. Und der hat bloß eine geringe Aussagekraft, weil er – siehe Silvester und Neujahr – nicht erkennen lässt, zu welcher Uhrzeit die Belastung am größten ist, so Heinecke.
Daten zu Feinstaubbelastung sind nicht zugänglich
Sinnvoller wäre es, die Daten auszuwerten, die die Messstationen minütlich erheben. Diese löscht die Stadt allerdings ungesehen. „Für uns wäre das ein erheblicher Schatz, mit dem wir neue Geschäftsmodelle aufbauen und vielen Menschen gesundheitlich helfen könnten.“ Die Bereitschaft der Behörden, diese Daten zu teilen, ist bislang nur mäßig ausgeprägt. Als Robert Heinecke die zuständigen Beamten um die Freigabe bat, stellten diese erstmal ihren Arbeitsaufwand in Rechnung. Höhe: 600 Euro.
Daten fallen ständig und überall an, im Verkehr, Haushalt oder bei der Arbeit, durch jeden Instagram-Post und jedes gestreamte Video. Prognosen zufolge nimmt ihr globales Volumen künftig drastisch zu, von 33 Zettabyte (2018) auf 175 Zettabyte (2025), eine Zahl mit 21 Nullen. Ausgewertet wird davon bislang nur ein Bruchteil. Einer Studie im Jahr 2012 zufolge waren es damals weniger als ein Prozent. Selbst wenn sich das seitdem vervielfacht haben sollte: Der ganz überwiegende Teil liegt ungenutzt auf Rechnern und Servern, vor allem bei privatwirtschaftlichen Unternehmen.
EU-Strategie
Europa will das ändern. Die EU-Kommission sucht eine Strategie, um die Zugänge zu Daten neu zu organisieren und einen Standard für das leichtere Teilen zwischen Konzernen, Gründern, Forschungseinrichtungen, Ämtern und Bürgern zu entwickeln. Die Hoffnung ist, dass dann Innovationen entstehen, ähnlich wie es die dominierenden Digitalfirmen aus den USA und China vormachen, deren Macht nicht auf ihrer Rechenpower basiert, sondern auf der Anhäufung großer Mengen von Daten. Aber auch das Gemeinwohl, nachhaltige Ziele und der Klimaschutz sollen so gefördert und vorangebracht werden. Nachgedacht wird deshalb, wie Datenspenden von altruistischen Bürgern möglich gemacht werden können: über Datentreuhänder, die als neutrale Intermediäre vermitteln; über Datenkooperative, deren Mitglieder Daten untereinander tauschen; oder über die Pflicht, Daten teilen zu müssen, etwa mit konkurrierenden Unternehmen.
Robert Heinecke von Breeze würde sich fürs Erste schon mit einer „regulatorischen Sandbox“ zufriedengeben, um abseits von den geltenden Bestimmungen Experimente in einem temporären Reallabor wagen zu dürfen. „Dann könnten wir einen Routenplaner entwickeln, der Asthmatiker/innen, Rentner/innen oder Eltern mit kleinen Kindern anzeigt, welche Route sich für einen Spaziergang eignet“, sagt er. Aber: Die dafür notwendigen Echtzeitdaten erhält er nicht und das bestehende Messnetz ist viel zu dünn. In seiner Stadt Hamburg, in der 1,8 Millionen Menschen leben, sind gerade mal 15 Stationen im Betrieb.
Luft ist ein hyperlokales Thema. Werden in einer Straße Schadstoffe festgestellt, kann es eine Ecke weiter ganz anders aussehen. Breeze baut deshalb ein eigenes Netz auf. Mit weißen, zylinderförmigen Sensoren, zwanzig Zentimeter hoch und vierzehn Zentimeter im Durchmesser, die „bis zu 1000 Mal günstiger und 50.000 Mal kleiner“ sind als stationäre Einheiten. Die darin verbauten Sensorelemente kalibriert Breeze für die Hauptparameter, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für urbane Luftqualität vorgibt. Installiert werden sie bei privaten Haushalten, an Balkonen, Fenstern oder auf Terrassen, „je nach Messkampagne“, so Heinecke. An Nachfragen würde es nicht mangeln – das öffentliche Interesse an dem Zustand der örtlichen Luftqualität sei in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Viele seien bereit, ihre Wohnung oder ihr Haus zur Verfügung zu stellen.
Datenschutz
Die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum zu stellen bei der Frage, wie und zu welchem Zweck Daten erhoben und eingesetzt werden sollten, ist nicht neu. Das ist vielmehr der Kern des Datenschutzes und der informationellen Selbstbestimmung. Während dieser Grundsatz in den vergangenen Jahren aber aus dem Fokus geriet durch Techfirmen, Geheimdienste und Regierungen, die immer mehr Daten sammelten, zum Teil anlasslos, nimmt jetzt die Zahl der Initiativen zu, die die Menschen wieder einbeziehen.
In der Schweizer Genossenschaft Midata haben sich Mitglieder versammelt, die ihre persönlichen Daten gezielt für medizinische Forschungen und klinische Studien zur Verfügung stellen. In Deutschland sucht die NGO Algorithm Watch für das von ihr koordinierte Projekt „DataSkop“ Datenspender, die dabei helfen wollen, Licht ins Dunkel von algorithmischen Entscheidungssystemen zu bringen; diese werden von ihren kommerziellen Anbietern – soziale Medien, Verkaufsplattformen, Finanzauskunfteien – in der Regel als Black Box konzipiert. In Barcelona und Amsterdam führte das von der EU unterstützte Projekt „Decode“ je zwei Versuche durch, in denen es unter anderem darum ging, ein datensicheres Nachbarschaftsportal aufzubauen und demokratische Beteiligungsprozess digital zu organisieren. Und in New York hat das GovLab, das Teil der New York University ist, im vergangenen Sommer begonnen, „Data Assemblys“ zu organisieren. In drei getrennten Versammlungen, sogenannten „mini-publics“, kamen Besitzer von Daten, Politiker, Vertreter von zivilrechtlichen Organisationen sowie Bürgerinnen und Bürger aller fünf Bezirke zusammen, um ihre Bedarfe, Wünsche, Erwartungen, Sorgen und Kritik einzubringen.
Stefaan Verhulst, Leiter des GovLab, sagt, dass beim ersten Mal die Corona-Pandemie im Vordergrund stand und diskutiert wurde, wie sich vorhandene Daten nutzen lassen, um die aktuelle Krise in den Griff zu bekommen. Bei künftigen Assemblys wird es dabei aber nicht bleiben. Eine weitere Fragestellung könnte lauten: Wenn eine Bank erkennt, dass jemand nur noch 400 Dollar auf dem Konto hat – wie muss die Unterstützung aussehen, damit diese Person trotzdem etwas für ihre Rente zurücklegen kann? Oder: An welcher Kombination von Suchbegriffen im Internet erkennt man, dass jemand psychische Probleme hat? Die Daten allein sind zwar nicht die Lösung, so Verhulst, es braucht immer Menschen, die aus den neu gewonnenen Erkenntnissen die richtigen Schlüsse ziehen. Aber: „Es gehört zu den größten Tragödien des Digitalen, dass wir über bergeweise von Daten verfügen und diese vielfach nicht nutzen, um das Leben aller Menschen zu verbessern.“
Seit Jahren schon arbeitet er daran, Datenkollaborationen und den „re-use“ von Daten, die Wiederverwendung, zu fördern. „Bislang war man entweder für oder gegen das Teilen von Daten – aber Debatten, in denen die Vor- und Nachteile abgewogen und die Graubereiche dazwischen ausgelotet werden, gibt es in der Öffentlichkeit kaum.“
Gelöst werden müssen viele Probleme. Eins davon ist der gesetzliche Rahmen. Nicht mal in der noch frischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die 2018 in Kraft trat, ist das Spenden von Daten geregelt, im Gegenteil. Einige Paragrafen erschweren es sogar. Eine zweite Hürde: Wer ist in Unternehmen, NGOs oder anderen Organisationen zuständig für die praktische Umsetzung? Selbst in Konzernen ist das sehr häufig nicht geregelt. Was es braucht, sind „Data Stewards“, so Verhulst. Datenverwalter/innen, die mit den notwendigen Befugnissen ausgestattet sind und als Ansprechpartner/innen dienen, wenn etwa eine humanitäre Organisation um digitale Unterstützung bittet. Dass es zu solchen Kooperationen kommt, hält er nur für eine Frage der Zeit. „Datenphilanthropie wird im digitalen Zeitalter ein wichtiger Bestandteil der Corporate Social Responsibility von Unternehmen sein.“
Wie so etwas aussehen könnte, erprobt Robert Heinecke mit seinem Geschäftsmodell. Breeze Technologies bewegt sich an der Schnittstelle zwischen For-Profit und Non-Profit. Einerseits will und muss es Gewinne erwirtschaften und vermietet seinen Sensoren an Unternehmen, die die Luftqualität in Fabrik und rund um ihre Industrieanlagen überwachen wollen. Andererseits sind darunter auch Daten von öffentlichem Interesse. Den Anwohner/innen will Breeze für diesen Service jedoch nichts berechnen. Die Lösung: „Kund/innen, die bereit sind, die bei ihnen erhobenen Daten dem Gemeinwohl zur Verfügung zu stellen und über ein frei zugängliches Bürgerportal veröffentlichen zu lassen, zahlen einen niedrigeren Abopreis“, sagt Heinecke.
Transparenz wird also belohnt. Und selbst wenn die firmeneigenen Daten privat bleiben: Im Hintergrund nutzt Breeze sie, um seine Künstliche Intelligenz weiter zu trainieren und auch die öffentlich verfügbaren Sensoren besser zu kalibrieren. Je mehr Erfahrungswerte, desto präziser die Analysen für alle.
Über dieses Modell will Robert Heinecke irgendwann dahinkommen, ganze Städte kostenlos mit Sensoren ausstatten zu können und sein Geschäft auf Basis der gewonnenen Daten zu finanzieren. Erste Städte hat er bereits als Partner gewonnen. In seiner Heimat Hamburg muss er noch Überzeugungsarbeit leisten. Warum? „Weil wir Probleme aufdecken, um die sich eigentlich die Politik kümmern sollte.“ Sie will sich vorerst weiter auf ihre stationären Messstationen verlassen, diese verwitterten Kästen, die so groß sind wie Wartehäuschen von Bushaltestellen und zum Teil schon in den 80ern aufgestellt wurden. Dass sie weitere 40 Jahre als Standardinstrumente der Luftüberwachung durchhalten, ist allerdings schwer vorstellbar.
Dies ist ein Gastbeitrag von Marc Winkelmann, der im Original zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung erschien und unter der Urheberrechtslizenz CC-BY-NC-ND 4.0 steht.
Der Artikel ist Teil des Dosssiers „Civic Tech – Wege aus der Klimakrise mit digitalem bürgerschaftlichen Engagement“. Alle Artikel des Dossiers findest du hier: Dossier Civic Tech
Das Dossier ist Teil der Projekt-Förderung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), in deren Rahmen wir vier Dossiers über zwei Jahre zum Thema „Chancen und Potenziale der Digitalisierung für eine nachhaltige Entwicklung“ erstellen. Mehr Informationen hier.