Der Krieg im Irak hat nicht nur das Leben vieler Menschen, sondern auch große Teile der Infrastruktur des Landes zerstört. Da auch viele Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen darunter waren, hat sich die medizinische Versorgung im Nachkriegs-Irak stark verändert: Viele Krankenhäuser wurden durch private medizinische Zentren ersetzt, die normalerweise 10-15 Kliniken in einem Gebäude mit einer Apotheke im Erdgeschoss beherbergen.
Meistens besitzt oder mietet dabei die Apotheke das Gebäude und vermietet die Klinikräume kostenlos oder zu einem sehr niedrigen Preis an Ärzt*innen weiter – die Gegenleistung ist der Patientenverkehr. Über informelle Vereinbarungen müssen sich die Ärzt*innen verpflichten, ihre Patient*innen ausschließlich zu ihrer „Hausapotheke“ zu leiten, zum Beispiel, indem sie nur kommerzielle Arzneimittelmarken verschreiben, mit denen die jeweilige Apotheke einen Vertrag hat. Oder sie erfinden Codes, so dass keine andere Apotheke ihre Rezepte verstehen kann. Dafür erhalten die Ärzt*innen zusätzlich oft noch Provisionen oder andere Vergünstigungen, die Apotheken hingegen können durch diese Patientenbindung wesentlich höhere Preise verlangen. Und selbst wenn Apotheken solche „Deals“ nicht absprechen, gibt es keine Vorgaben dafür, wie viel für ein Arzneimittel verlangt werden darf, so dass die Preise von einer Apotheke zur anderen stark variieren können. Viele Menschen im Irak leben von nur etwa 15 Dollar pro Tag – die teuren Medikamente sind davon unerschwinglich.
Als Reaktion auf dieses Problem entwickelten die Sozialunternehmer Ameen Hadeed und Ammar Alwazzan die App Pharx und brachten sie im März 2020 auf den Markt. Die App soll die Preisspirale durch die Absprachen von Apotheken und Kliniken durchbrechen, indem sie ihren Nutzer*innen Informationen darüber liefert, wie hoch der Preis von Medikamenten sein sollte und wo sie am günstigsten zu bekommen sind. Die App deckt im Moment nur Mossul ab, doch sie könnte auch in anderen Gebieten im Irak zum Einsatz kommen, da im ganzen Land die gleichen Probleme bestehen.
Einrichtung einer App mitten in der Abschaltung des Internets
Ameen Hadeed und Ammar Alwazzan erhielten für die Entwicklung des Prototyps eine Förderung des von Oxfam geführten Iraq Response Innovation Labs. Das Lab unterstützt Innovator*innen bei der Entwicklung, Erprobung und Durchführung von Pilotprojekten zur Lösung humanitärer Herausforderungen. Schon während des Pilotversuchs hat sich gezeigt, dass viele der unabhängigen Apotheken – von denen sich 173 angemeldet haben – großes Interesse an der App hatten. Doch an Hindernissen auf dem Weg zum Prototypen hat es nicht gefehlt. Eine App in einem Land zu entwickeln, in dem viele Menschen kaum Zugang zur digitalen Welt haben, ist nicht leicht. Viele der Menschen wissen über das Internet gerade mal, dass es „Facebook und Instagram gibt – wenn überhaupt“, sagt Ameen. „Aber so etwas wie PayPal oder elektronische Zahlungen gibt es im Irak nicht. Selbst die Regierung benutzt immer noch Stift und Papier für alles, was sie tut.“ Darüber hinaus können sich wirtschaftlich benachteiligte Menschen – die Zielgruppe der App – in der Regel keinen Internetzugang leisten. Und selbst diejenigen, die über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, haben keinen Internetzugang, weil die Infrastruktur schlecht ist. (Auch in unserem Skype-Interview fiel Ameens Internet zwischendurch aus.)
Zudem stießen die beiden Entwickler auf extrem ungünstige rechtliche Rahmenbedingungen und eine erstickende Bürokratie. Ameen entdeckte, dass es illegal ist, die Verteilung von Medikamenten im Irak zu erleichtern, das Team würde rechtlich als Drogenhändler eingestuft werden. Außerdem sind Startups im Irak ein neues Konzept und die Registrierung kann Monate oder sogar Jahre dauern.
Doch nicht nur das kam zu den üblichen technischen und finanziellen Problemen hinzu, mit denen jedes Startup konfrontiert ist: Im Dezember wurde das Internet aufgrund von Protesten abgeschaltet – und Anfang dieses Jahres begann die Covid-19-Pandemie.
Daraufhin haben Ameen Hadeed und Ammar Alwazzan ihre Strategie geändert: Statt sich weiter auf individuelle Nutzer*innen zu fokussieren, begannen die beiden, mit lokalen Wohltätigkeitsorganisationen zusammenzuarbeiten, die Medikamente für wirtschaftlich benachteiligte Menschen bereitstellen. Auch Wohltätigkeitsorganisationen leiden unter dem Mangel an Informationen über Arzneimittelpreise, wie Ameen herausfand. Gleichzeitig verfügen viele der Wohltätigkeitsorganisationen über Datenbanken mit Informationen über besonders hilfsbedürftige Menschen sowie über bestimmte Zulagen und Genehmigungen, mit denen sie gesetzliche Hürden überwinden und in jüngster Zeit auch Covid-19-Kontrollpunkte passieren können.
Alles im Irak dauert sehr lange, sagt Ameen, „deshalb muss man hartnäckig sein“. Doch es sieht so aus, als würde sich die Hartnäckigkeit der beiden Sozialunternehmer langsam auszahlen. Mit etwas Glück wird die App dazu beitragen, das Preisdiktat der Apotheken einzuschränken und so den Zugang zu Medikamenten für diejenigen dauerhaft verbessern, die sie wirklich brauchen.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung von Sarah-Indra Jungblut. Das Original erschien zuerst auf unserer englischsprachigen Seite.