OONI: Software spürt Menschenrechtsverletzungen im Internet auf

Freie Meinungsäußerung ist zwar ein Menschenrecht, in einigen Ländern wird dieses jedoch eingeschränkt. Die Software OONI spürt Zensur im Internet mit Unterstützung vieler Freiwilliger auf, um das Thema in die breite Öffentlichkeit zu tragen.

Autor*in Leonie Asendorpf, 04.06.20

Übersetzung Leonie Asendorpf:

Laut Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat jeder Mensch „das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“

Damit verbietet Artikel 19 eine staatliche Zensur. Trotzdem gibt es in einigen Ländern blockierte Zugänge zu Informationen (zum Beispiel zum Schwangerschaftsabbruch), gesperrte Messaging-Dienste oder Überwachung von regierungskritischen Foren. Menschen, die sich im Internet austauschen und informieren, diskutieren oder öffentlich ihre Meinung sagen, sind in manchen Ländern noch immer der Gefahr ausgesetzt, dafür verfolgt und bestraft zu werden.

Zwar gibt es bereits verschieden Methoden und Systeme, mit denen Nutzer*innen möglichst anonym im Internet surfen (beispielsweise mit dem Tor-Netzwerk) oder sogar auf zensierte Medien und Webseiten zugreifen können (über Dienste wie Psiphon oder VPN-Zugänge). Nichtsdestotrotz ist es in autokratischen oder diktatorischen Regimen, die ihre Bevölkerung möglichst genau beobachten wollen, noch immer schwierig, der Überwachung zu entkommen.

Die Grafik oben zeigt die Lücken des freien Zugangs zum Internet. Blau bedeutet „freier Zugang“, gelb bedeutet „teilweise zensiert“. Rot bedeutet „überwacht“ und schwarz „zensiert“. Bei grauen Markierungen ist der Status nicht bekannt.

Um die Fälle, in denen Internetzensur stattfindet, zu dokumentieren, hat das internationale sechsköpfige Team der Open Observatory of Network Interference (OONI) ab 2011 eine Software entwickelt, durch die Internetzensur öffentlich gemacht wird. Mithilfe dieser Daten sollen Regierungen, welche ihren Bürger*innen freie Meinungsäußerung im Internet verwehren, unter Druck gesetzt werden können. Seit dem 21. April dieses Jahres gibt es die OONI-Software nun nicht mehr nur als Android-App, sondern auch als Desktop-App für Windows und Mac OS.

Transparente Netzwerkmessungen zum Aufspüren von Internetzensur

Arturo Filastò ist einer der Mitgründer des OONI-Netzwerks. Zuvor war er in die Entwicklung des Tor-Projektes eingebunden und arbeitete dort daran, das Programm resistenter gegen Internetzensur zu gestalten. „Als Teil einer in Technik und Internetzensur interessierten Community wollte ich gerne die technische Dimension hinter den verschiedenen Formen von Internetzensur weltweit verstehen“, erklärt Filastò gegenüber RESET. Es habe zu diesem Zeitpunkt zwar schon viele Projekte gegeben, die sich mit Internetzensur durch Netzwerkmessung befassten, wie die Open Net Initiative. Keines dieser Projekte sei jedoch sowohl frei zugänglich und kostenlos als auch komplett transparent mit seinen Messungsmethoden.

„Durch das Fehlen offener Tools, Methoden und Daten war eine unabhängige Überprüfung von Fällen der Internetzensur unmöglich“, so Maria Xynou, Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit von OONI gegenüber RESET. Dies sei der ausschlaggebende Punkt dafür gewesen, das OONI-Projekt 2011 zu gründen und eine kostenlose Software zu entwickeln, welche die Messmethoden offen dokumentiert. Seit 2012 wird die Software genutzt.

Konkret wird mit der OONI-Software geprüft, ob einzelne Webseiten oder der Zugang zu Messaging-Diensten wie WhatsApp, Facebook-Messenger oder Telegram blockiert werden. Außerdem spürt die Software sogenannte Middleboxes auf. Diese können beispielsweise von Regierungen installiert werden, um den Internetverkehr zu kontrollieren. Darüber hinaus sind sie auch für die Geschwindigkeit und Leistung des Netzwerks verantwortlich. Mit der Hilfe von Freiwilligen, die die Software auf ihren Geräten installieren, sollen Daten gesammelt werden, die als Beweis für Internetzensur dienen können. Denn sie zeigen, wie, wann, wo und von wem sie implementiert werden.

Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen weltweit

Auf der OONI-Plattform werden alle Netzwerkmessungen, die durch die Nutzer*innen ermöglicht wurden, analysiert und veröffentlicht. Je mehr Menschen sich an der Aktion beteiligen und auf Internetzensur hinweisen, desto größer und ausführlicher wird das Archiv und somit die Datengrundlage für Menschenrechtsaktivist*innen, die gegen Internetzensur vorgehen wollen. Da die Internetzensur von Netzwerk zu Netzwerk (auch innerhalb einzelner Länder) variieren kann, sei es laut Xynou notwendig, so viele Netzwerke wie möglich zu messen, um Fälle von Internetzensur auf der ganzen Welt erkennen zu können.

Seit 2016 gibt es ein OONI-Partnerschaftsprogramm mit insgesamt 27 lokalen Menschenrechtsorganisationen aus Südamerika, Süd- und Südostasien, Afrika, Ländern des mittleren Ostens und Osteuropa. Darunter sind sowohl NGOs als auch Hackerspaces, Rechtsverbände, Medienorganisationen und Forschungsgruppen. „Diese Partnerschaften ermöglichen die tägliche und kontinuierliche Erfassung von Netzwerkmessungen, insbesondere bei politischen Ereignissen – wie Wahlen und Demonstrationen – und unterstützen die Politik und die rechtlichen Bemühungen der lokalen Partnerorganisationen“, so Xynou. Darüber hinaus ist OONI ein aktives Mitglied der „Access Now’s KeepItOn“-Kampagne, einer globalen Koalition von Menschenrechtsorganisationen, die sich für ein offenes Internet einsetzen.

So dienten die Daten des OONI-Netzwerks 2018 beispielsweise als Beweislage für eine Petition, die am obersten Gerichtshof von Islamabad, der Hauptstadt Pakistans, eingereicht wurde. Hier ging es um die Sperrung verschiedener Medienwebseiten und Social-Media-Plattformen während der Proteste 2017 gegen den damaligen Minister für Recht und Justiz Zahid Hamid. In den meisten Fällen, und so auch bei dem Fall aus Pakistan, ist es sehr schwierig, sich gegen Regime, die Internetzensur betreiben, durchzusetzen. Daher gehe es laut den Macher*innen des Netzwerks vor allem darum, erstmal „eine öffentliche Debatte über Internetzensur anzustoßen“ und im Allgemeinen „soziale Gerechtigkeit im Internet zu fördern“.

Die Installation der Software auf dem Computer oder Smartphone ist kostenlos. Der größte Anteil der Projektkosten wird durch Spenden finanziert. Außerdem gehört der Open Technology Fund (OTF) seit Anfang an zu den Hauptunterstützern des Projekts. OTF hat unter anderem Programme wie Tor und Signal gefördert; beides Projekte, die sich ebenfalls für Datenschutz und Menschenrechte im Internet einsetzen. Weiter gehört auch der Mozilla Open Source Support zu den Unterstützern der OONI-Software.

Wie sicher ist die Benutzung der OONI-Software für die Nutzer*innen?

„Unseres Wissens hat bislang niemand, der OONI-Software benutzt, Konsequenzen davongetragen“, so Xynou gegenüber RESET. „Wir sind uns der möglichen Risiken jedoch sehr bewusst. Diese variieren abhängig von Faktoren wie dem jeweiligen Land, in dem sich Nutzer befinden, als auch dem Netzwerk, von dem aus sie die OONI-Software benutzen und den Websites, die sie testen.“ Um die Nutzer*innen zu schützen, gibt es auf der Webseite des Projektes ausführliche Informationen zu potenziellen Risiken, die mit der Nutzung der Software einhergehen können. Den Nutzer*innen werden darüber hinaus verschiedene Auswahlmöglichkeiten geboten, mit welchen die Datenerfassung flexibel deaktiviert werden oder über die Erfassung und Veröffentlichung der Daten manuell bestimmt werden kann.

In einem 2011 veröffentlichten Paper zur Motivation des Projektes heißt es, dass die Beobachtung eine Grundvoraussetzung für die Weiterentwicklung des Wissens sei. OONI wolle sicherstellen, dass die Instrumente zur Durchführung solcher Beobachtungen für alle frei verfügbar sind. „Mit der Überzeugung, dass der uneingeschränkte Zugang zu Informationen ein inhärentes Menschenrecht ist, versucht OONI, das Maß an Überwachung, Zensur und Netzwerkdiskriminierung zu beobachten, damit die Menschen weltweit ein klareres Verständnis dafür haben, wie ihr Zugang zu Informationen und Sprache überwacht, zensiert oder anderweitig gefiltert wird.“

Allein im April dieses Jahres wurden nach Angaben auf der Webseite Daten aus knapp sieben Millionen Netzwerkmessungen in mehr als 200 Ländern und über 6.000 Netzwerken gesammelt. Laut den Macher*innen der Software haben bereits mehrere Hunderttausend Menschen die OONI-Software installiert. Die Software steht Nutzer*innen neben Englisch auch auf Chinesisch, Russisch, Spanisch, Französisch, Türkisch, Thai, Italienisch, Griechisch Katalanisch, Slowakisch, Portugiesisch und Deutsch zur Verfügung.

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