Das Küstenland Schleswig-Holstein produziert durch Windkraft sauberen Strom im Überfluss und könnte sich schon heute rechnerisch zu 150 Prozent selbst mit erneuerbarer Energie versorgen. Direkt daneben liegt Hamburg, das als bevölkerungsreiche Metropole und Schwerindustriestandort viel Strom benötigt. Als dicht bebauter Stadtstaat kann Hamburg aber derzeit selbst nur vier Prozent des Eigenbedarfs durch erneuerbare Energien abdecken.
Es liegt also nahe, die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien in Schleswig-Holstein besser auszuschöpfen, um auch die benachbarte Metropolregion damit zu versorgen. Eine gute Idee, mit einer Schwierigkeit: Der Strom kann nicht einfach aus Schleswig-Holstein nach Hamburg geschickt werden. Die Netzfrequenz muss immer stabil bei 50 Hertz gehalten werden, um eine konstante Stromversorgung zu gewährleisten. Ist die Frequenz zu niedrig, fehlt Strom im Netz, ist die Frequenz zu hoch, ist zu viel Strom im Netz. Damit es keine zu großen Schwankungen gibt, muss zu einem Zeitpunkt daher immer so viel Strom erzeugt werden, wie auch verbraucht wird – oder andersrum.
Hier setzt das Verbundprojekt NEW 4.0 – Norddeutsche EnergieWende an und erprobt die Machbarkeit der flächendeckenden Versorgung mit nachhaltigem Strom. Die rund 60 Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik haben ein gemeinsames Ziel: „Wir wollen zeigen, dass wir die Energiewende nicht nur dringend brauchen, sondern dass sie auch möglich ist“, erklärt Dr. Sandra Annika Meyer, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und Akzeptanzförderung bei NEW 4.0. „4.0“ steht dabei für die Schwelle zur vierten industriellen Revolution: die Digitalisierung, die durch eine intelligente Vernetzung der Systeme bei der Energiewende eine zentrale Rolle spielt.
Den Stromverbrauch der Erzeugung anpassen
Überall auf der Welt liegen Verbrauchsregionen und Erzeugungsregionen von erneuerbaren Energien in direkter Nachbarschaft, große Mengen an Strom können selten da produziert werden, wo sie auch verbraucht werden. Das länderübergreifende Projekt will in den vier Jahren Projektlaufzeit bis 2020 Wege finden, wie Hamburg und Schleswig-Holstein bis 2035 vollständig mit Strom aus erneuerbaren Energien versorgt werden können und damit auch eine Vorbildfunktion für andere Regionen einnehmen.
Eine Energieversorgung, die vollständig auf erneuerbaren Energien basiert, setzt eine Umstrukturierung unseres Energiesystems voraus. Derzeit besteht es aus wenigen zentralen Kraftwerken, die sich unkompliziert hoch oder runter regeln lassen, je nach Strombedarf. Nach einer Umstellung auf erneuerbare Energien wird der Strom dezentral von vielen Tausend Erzeugern in das Energiesystem eingespeist. Da die Stromquellen wetterabhängig sind, ist die Energieerzeugung schwer zu steuern. Das bedeutet: Der Verbrauch muss sich an die Erzeugung anpassen.
Im Fokus stehen neben der Steuerung des Stromverbrauchs auch neue Speichermethoden und die Umwandlung überschüssigen Stroms in andere Energieformen, wie zum Beispiel Wärme. Dazu arbeiten die Partner von NEW 4.0, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Rahmen des SINTEG-Programms gefördert wird, in acht interdisziplinär vernetzten Arbeitsgruppen zusammen. Insgesamt werden rund 100 Teilprojekte realisiert, um das Vorhaben ganzheitlich zu beleuchten: Die digitale Plattform ENKO ermöglicht es industriellen Verbrauchern und Anlagenbetreibern beispielsweise, ihre Stromnachfrage flexibel der Grünstromerzeugung anzupassen, ein Batteriespeicher wurde direkt in einem Windpark in Hamburg-Curslack errichtet, um als Speicherregelkraftwerk Schwankungen im Netz kurzfristig auszugleichen, bevor sie zu Problemen führen. Andere Projekte erforschen die gesellschaftliche Akzeptanz in der Region oder wie Industrieunternehmen ihren Verbrauch flexibilisieren und so im Bedarfsfall das Stromnetz entlasten können.
Flexibler Stromverbrauch auch zu Hause
Als eines der wenigen Teilprojekte von NEW 4.0, die unmittelbar an Endverbraucher*innen gerichtet sind, untersuchen die Stadtwerke Norderstedt im Kleinen das, was die industriellen Projektpartner im großen Stil planen. Im Speckgürtel Hamburgs testen gerade tausend Norderstedter*innen, wie mit intelligenten Steckdosen der Verbrauch an die Erzeugung angepasst werden kann. Abhängig von der Verfügbarkeit der überschüssigen Windenergie schalten sich die Steckdosen mehrmals am Tag ein und aus. „Diese Stunden sind zeitlich nicht planbar, da sie vom Wind abhängig sind“, erklären die Stadtwerke auf ihrer Website und empfehlen, damit Akkus und zeitlich flexible elektronische Geräte zu laden. Das Projekt möchte herausfinden, welche Anreize Endverbraucher benötigen, wie sie das Angebot nutzen und wie ein Stromtarif aussehen muss, der die flexible Nutzung abbildet.
Im Herbst 2019 startet das Großprojekt NEW 4.0 in die Ergebnisphase, in der das Energiesystem der Zukunft konkret erprobt wird. In einem gemeinsamen Feldtest spielen die Partner von NEW 4.0 verschiedene Szenarien durch, die in einem erneuerbaren Energiesystem auftreten können. Ein Förderprojekt, das an NEW 4.0 anknüpft, steht auch schon in Aussicht: Als frisch gekürter Gewinner des Ideenwettbewerbs „Reallabore der Energiewende“ will das Norddeutsche Reallabor, aufbauend auf den funktionsfähigen Lösungen von NEW 4.0, zukunftsfähige Wasserstofftechnologien unter realen Bedingungen im industriellen Maßstab erproben.
Durch die Aufmerksamkeit der Politik, die NEW 4.0 nicht zuletzt durch die Unterstützung des Wirtschafts- und des Umweltministeriums Schleswig-Holstein sowie der Hamburger Behörden für Umwelt und Energie und für Wirtschaft, Verkehr und Innovation erhält, kann das Projekt auch einen Beitrag dazu leisten, politische Rahmenbedingungen zu verändern. „Derzeit belasten Abgaben und Umlagen aus dem Strombereich die Erprobung innovativer Technologien für die Energiewende. Wenn überschüssiger regenerativ erzeugter Strom auch für den Wärmemarkt, den Mobilitätssektor oder die Industrie nutzbar gemacht werden soll, wird also ein veränderter Rechtsrahmen benötigt“, erklärt Sandra Annika Meyer. „So kann aus der Stromwende eine richtige Energiewende werden und CO2 in allen Lebensbereichen eingespart werden.“