Materialien eine Identität geben – zirkuläres Bauen mit digitalem Materialpass

Städte und Siedlungen sind riesige Lager an Rohstoffen und Baumaterialien – sie werden bei Sanierung und Abriss frei.

Das Konzept, neue Häuser aus alten Materialien und Bauteilen zu erschaffen, gibt es schon länger. In der Vergangenheit fehlte es dafür aber häufig an entsprechender Vernetzung – der digitale Materialpass soll das ändern.

Autor*in Luisa Ilse, 27.09.23

Übersetzung Lana O'Sullivan:

In Berlin-Neukölln errichtet die Baugenossenschaft TRNSFRM ein Wohnhaus aus alten Steinen, Fenstern und Türen – zirkuläres Bauen ist der Fachbegriff dafür. Das viergeschossige CRCLR-Haus wird als Aufbau auf bereits bestehende Grundmauern des ehemaligen Kindl-Brauerei-Komplexes realisiert und soll im Sommer 2024 fertiggestellt werden. Nach Bauabschluss wird das Gebäude rund 2500 Quadratmeter Wohnfläche und etwa 2300 Quadratmeter Platz für Gewerbe haben. TRNSFRM möchte mit diesem Projekt bezahlbaren, nachhaltigen und gemeinschaftsorientierten Wohnraum schaffen.

FAKTEN: ZIRKULÄRES BAUEN

Beim zirkulären Bauen geht es darum, Gebäude und deren Bauteile und -materialien weiter- und wiederzuverwenden, sodass sie möglichst lange in einem Kreislauf verbleiben.

Die drei wichtigsten zirkulären Ansätze sind:

•Bestandserhalt – bestehende Strukturen erhalten (zum Beispiel Rohbau)
•Weiter- oder Wiederverwendung – Einsatz bereits im Kreislauf befindlicher Materialien und Bauteile; gegebenenfalls aufarbeiten oder recyceln (zum Beispiel R-Beton)
•Kreislauffähiges Entwerfen – Verwendung von ressourcenschonenden und emissionsarmen Materialien und Bauteilen, die einfach rückgebaut und weiter- oder wiederverwendet werden können (zum Beispiel vorgehängte Fassaden)

Alle drei Ansätze lassen sich miteinander kombinieren.

Dabei vereinfacht eine Dokumentation der Materialien und Bauteile die Kreislaufwirtschaft beziehungsweise macht diese oft erst möglich.

Doch so schön die Idee auch klingt, ihre Umsetzung ist nicht immer einfach. Gerade in Bezug auf die Erschließung von verfügbarem, gebrauchtem Baumaterial in ausreichender Menge fehlt es oft an entsprechendem Austausch. So haben Bauteilbörsen häufig nur eine begrenzte Menge an Material zur Verfügung – ein professioneller Markt für gebrauchte Bauteile existiert aktuell nicht. „Davon kann man kein Haus bauen“, erklärt Simon Lee, Co-Vorstand von TRNSFRM. Wünschenswert wäre daher eine höhere Transparenz und stärkere Vernetzung im Gebrauchtbauwesen.

Mehr Transparenz durch einen digitalen Materialpass?

Das Gebäudeforum klimaneutral arbeitet an verschiedenen nachhaltigen Lösungen für die Baubranche. Ein digitales Tool, mit dem das zirkuläre Bauen vorangebracht werden soll, ist der digitale Madaster-Materialpass. „Mit dem Madaster-Materialpass erhalten Baumaterialien eine Identität. So wird verhindert, dass sie als Abfall in der Anonymität verschwinden“, berichtet der Projektmitbegründer Thomas Rau.

Durch eine umfassende Datenerhebung mittels Building Information System (BIM) werden zunächst alle verfügbaren Gebäudeinformationen gesammelt. Madaster als zentrale Online-Plattform speichert, verwaltet und tauscht dann die gesammelten Informationen zu den verbauten Materialien. Damit kann man das Tool als digitalen Kataster speziell für die Baubranche begreifen.

Der digitale Materialpass könnte alle Gebäudeinformationen auf einer zentralen Online-Plattform speichern und der Kreislaufwirtschaft zur Verfügung stellen.

Der aus der digitalen Kopie erstellte Materialpass eines Gebäudes kennzeichnet deren Qualität, Herkunft und Lage. Und er hält noch mehr Informationen parat. So werden auch chemische Inhaltsstoffe, Produktzusammensetzungen, Recyclinganteile und Zahlen zur Ökobilanz und der Recyclingfähigkeit von Baustoffen dokumentiert. All diese Informationen vereinfachen die Ermittlung des materiellen, zirkulären und finanziellen Restwerts eines Gebäudes.

Fokus auf die gesamte Kreislaufwirtschaft

Das Unternehmen Concular hat einen ähnlichen Ansatz mit seinem digitalen Gebäuderessourcenpass entwickelt. Mit dem Pass sollen Eigentümer*innen die Möglichkeit haben, einen Überblick über ihre Immobilien und deren Potenzial für das zirkuläre Bauen in allen Lebenszyklusphasen der Gebäude zu erhalten. Dabei soll die Optimierung der Zirkularität mithilfe des Passes von der Planung über die Bestandssanierung bis hin zum Rückbau unterstützt werden.

Schlüssel der Ökobilanzierung und Zirkularitätsbewertung ist auch hier die Gewinnung von relevanten Daten mittels BIM sowie deren Analyse und Auswertung. Dabei ermöglichen Parameter wie der Circularity Performance Index (CPI) eine quantitative Bewertung einzelner Bauteile und folglich des gesamten Gebäudes in Bezug auf seine Zirkularität. Der CPI soll abbilden, inwiefern die einzelnen Materialien und Bauteile nach Ablauf der Gebäudelebenszeit wieder dem Kreislauf zugeführt werden können.

Gegenüber dem Ansatz von Madaster begreift sich Concular als Anbieter, der noch einen Schritt weitergeht und „den kompletten Kreislauf durchführt“, erklärt Concular-Mitbegründer Dominik Campanella.

Bringt der digitale Materialpass Schwung ins zirkuläre Bauen?

Zur erfolgreichen Umsetzung des zirkulären Bauens gehört neben einer motivierten Bauherrschaft auch die Schaffung einer Plattform zum Austausch für gebrauchte Materialien und Bauteile. Das Gebäudeforum klimaneutral und Concular schaffen mit ihren beiden Projekten die Grundlage, auf der ein entsprechendes System aufgebaut werden könnte.

Gebäude sind ein CO2-Schwergewicht: Das Bauen, Wärmen, Kühlen und Entsorgen unserer Häuser hat einen Anteil von rund 40 Prozent an den CO2-Emissionen Deutschlands. Unsere Klimaziele erreichen wir nur, wenn diese Emissionen massiv gesenkt werden.

Wie aber gelingt die nachhaltige Transformation der Gebäude und welche Rolle spielen digitale Lösungen dabei? Das RESET-Greenbook gibt Antworten: Gebäudewende – Häuser und Quartiere intelligent transformieren

Zukünftig wird dieser Bedarf durch Verordnungen wie die EU-Taxonomy for sustainable activities wohl noch weiter steigen. Die EU-Taxonomy dient als Instrument zur einheitlichen Kategorisierung von Wirtschaftsaktivitäten hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit und soll letztlich das Klima schützen. Grundlage für die Bewertung bilden sechs Umweltziele. Neben Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel zählt dazu auch der Übergang in eine Kreislaufwirtschaft.

Unternehmen müssen für die Umweltziele bestimmte Mindestanforderungen einhalten – ein digitaler Materialpass kann sie dabei unterstützen. So müssen laut EU-Taxonomy bei einer Gebäudesanierung mindestens 50 Prozent des Bestandsgebäudes erhalten bleiben. Bei einem Neubau müssen mindestens 15 Prozent gebrauchte, 15 Prozent recycelte und 20 Prozent kombinierte Materialien aus beiden Kategorien oder nachwachsende Materialien verwendet werden.

Betrachtet man die Städte und Siedlungen in Deutschland mit dem Zirkularitätsgedanken, dann sind sie riesige Lager an Rohstoffen und Baumaterialien. Das Umweltbundesamt schätzt den Umfang dieses Lagers auf rund 52 Milliarden Tonnen Material. Die meisten davon sind verbaut und für das Gebrauchtbauwesen nicht zugänglich. Ein Teil jedoch wird durch Sanierungen oder Abriss frei. Ohne entsprechende Lösungen wie dem digitalen Materialpass verschwinden sie jedoch anonym und ungenutzt auf Deponien, obwohl sie auf anderen Baustellen – wie das Beispiel des CRCLR-Hauses zeigt – problemlos wiederbelebt werden könnten.

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Dieser Artikel gehört zum Dossier „Gebäudewende – Häuser und Quartiere intelligent transformieren“. Das Dossier ist Teil der Projekt-Förderung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), in deren Rahmen wir vier Dossiers zum Thema „Mission Klimaneutralität – Mit digitalen Lösungen die Transformation vorantreiben“ erstellen.

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