Liquid Democracy – eine demokratische Revolution

Ich habe eine Vision: Die Parteiendemokratie löst sich auf, weil jeder interessierte Bürger ohne Umweg direkt an der Willensbildung teilhat. Die mechanische und technische Unmöglichkeit unmittelbarer Massenherrschaft, in der Robert Michels 1911 noch einen Beitrag zum "ehernen Gesetz der Oligarchie" gesehen hat, gibt es nicht mehr. 

Autor Jenny Louise Becker, 05.02.12

Ich habe eine Vision: Die Parteiendemokratie löst sich auf, weil jeder interessierte Bürger ohne Umweg direkt an der Willensbildung teilhat. Die mechanische und technische Unmöglichkeit unmittelbarer Massenherrschaft, in der Robert Michels 1911 noch einen Beitrag zum „ehernen Gesetz der Oligarchie“ gesehen hat, gibt es nicht mehr. 

Es findet keine Mediatisierung der Initiative durch eine Parteienhierarchie statt, die Parteien als Verfahren zur politischen Willensbildung und demokratischen Teilhabe an der Macht werden immer unwichtiger, denn die Willensbildung findet tagtäglich und wirkungsvoll statt. Damit löst sich auch Robert Michels‘ „Ehernes Gesetz der Oligarchie“ auf. Denn die Hierarchien (bei Michels untersucht an den Beispielen der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften 1911), verlieren im ersten Schritt ihren Einfluss auf die Willensbildung. Die Zensurwirkung einer Antragskommission löst sich auf. Im zweiten Schritt kommt es zur Ent-Oligarchisierung der Ausleseprozesse. Die Steuerung der Wahlen auf Parteitagen von oben wird durch immer mehr autonome Entscheidung  von unten – zunächst – der Parteidelegierten und dann der Bevölkerung abgelöst. 

Die Urwahl deutscher Bürgermeister ist ein funktionierendes Beispiel, auch wenn die Abwahl schwerer fällt als die Wahl. Die US-Präsidentenwahl ist hingegen kein Beispiel einer gelungenen Urwahl, weil sie formal durch das Wahlmännersystem und inhaltlich durch eine politikabstinente Wählerschaft, die mit dem Einsatz von teuren Marketingkampagnen gewonnen werden muss, pervertiert wird.

Damit löst sich auch die Grenze zwischen „Politiker“ und „Bürger“ auf. Der Politiker verstanden als Aktivist, der aus seiner Privatheit herausgetreten und einer Partei beigetreten ist, wird verdrängt durch den Bürger, den Citoyen, der aktiv an der Polis, dem Zusammenleben der Bürger teilhat. Das bedeutet, dass die Befürchtung aus dem Seemann-Blog, die Trias aus politischer Transparenz, politischer Partizipation und Datenschutz,  die sich nicht zusammenfügen ließe, sondern zum Ende der Privatheit führe, schon im Ansatz nicht zutrifft. Datenschutz braucht gerade der Private, der bestimmte persönliche Merkmale nicht preisgeben will – der Citoyen, der sich an der Willensbildung der Polis beteiligt, hat von vorn herein auf die Privatheit verzichtet. 

Der Pirat will doch entern! Ändern! Herrschaftssysteme angreifen! 

Deswegen reicht der Hinweis auf die Manipulierbarkeit des Wahlcomputers nicht aus. Der Pirat muss vielmehr akzeptieren – und das ist gerade das Revolutionäre – dass er zum Citoyen geworden ist. Dafür gewinnt er viel: Er stellt seine Überlegungen und Einflussnahme nicht nur „ins Netz“, sondern erfährt unmittelbare Reaktionen, im besten Falle ungeteilte Akzeptanz, jedenfalls Hinweise, Weiterdenken, Klügerwerden, Einfluss auf die politische – gleich öffentliche – Willensbildung. Dazu kommt – als Verstärker – das Delegationsprinzip, das gleich auf mehrere Dilemmata reagiert. Nicht jeder ist in jedem Gegenstand ein Crack. Nicht jeder formuliert von vornherein so, dass dem Leser nur staunend die Augen glänzen. Deswegen ist es sinnvoll, dass er seine Stimme aktiviert, aber in diesem Sonderfall nur insoweit, als er sie delegiert. Das ganze ist ja ein Gegengeschäft, denn er kann, kluge Ideen vorausgesetzt, ebenfalls von Delegationen profitieren. Damit bezieht die Basisdemokratie von vornherein die maximal mögliche Befruchtung in ihre Substanz ein.

Dazu zählt nach meiner Ansicht auch das „Kandidatengrillen“, eine perfekte Form der Vorstellung, des Einübens von Ideen und ihrer Präsentation, der Bereitschaft, sich kritischen Fragen auszusetzen, eben „gegrillt“ zu werden. Die Basis erfährt dadurch frühzeitig, wen sie vor sich hat und der Kandidat merkt wo seine Stärken und Schwächen liegen. Damit entsteht die Wahlchance nicht dadurch, dass die Oligarchie den ihr genehmen Kandidaten aus dem Hut zaubert, sondern dadurch, dass der Wahlbürger seine eigene Meinung bildet und betätigt. Wer – wie wohl registrierter Pirat und damit Citoyen – sich bedeckt halten will, weil er im Moment keinen Standpunkt hat oder sich damit nicht öffentlich machen will, bleibt im Moment an dieser besonderen Spielart der Liquid Democracy nicht beteiligt. Der Punkt ist: Will man dieser Basisdemokratie eine Chance geben oder nicht. Man muss eine Abwägung treffen. Auch wenn man zu den Minderheiten gehört, die unter Umständen persönliche oder berufliche Diskriminierung gewärtigen müssen. 

Begrifferläuterung: Polis ist per se das Öffentliche. Der Citoyen ist der Bürger, der sich an der Polis beteiligt. 

 

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