Lösungen statt Weltuntergang: Darum brauchen wir konstruktiven Journalismus!

Du willst in den Medien nicht immer nur über Katastrophen und Probleme lesen, sondern auch etwas über mögliche Lösungen für Herausforderungen erfahren? Genau hier setzt der konstruktive Journalismus an.

Autor Marisa Pettit:

Übersetzung Marisa Pettit, 16.07.18

Machen wir mal einen kleinen Test…

Erste Frage. Was sind deiner Meinung nach die drei größten Probleme, mit denen wir weltweit gerade konfrontiert sind?

Zweite Frage. Fallen dir mögliche Lösungen für diese drei Probleme ein?

Dritte Frage. Was von beidem ist dir leichter gefallen?

Der „Negativ-Bias“ unseres Gehirns

Wahrscheinlich war es für dich einfacher, an die Probleme statt an die Lösungen zu denken, oder? Aber warum ist das so? Sind wir etwa so programmiert, dass wir uns besser auf negative Dinge fokussieren können?

In gewisser Weise ist das tatsächlich der Fall. Studien aus dem Bereich der Neurowissenschaft legen nahe, dass sich das menschliche Gehirn – als Teil eines primitiven Überlebensmechanismus‘ – so entwickelt hat, dass wir empfindlicher und stärker auf negative Nachrichten reagieren. Gleichzeitig wird das, was wir als Realität wahrnehmen, stark von den Medien beeinflusst – von den Themen, auf die sich Nachrichtenagenturen, Sender und Zeitungen konzentrieren, von den Perspektiven, die sie einnehmen, und sogar von den Wörtern, die sie verwenden.

Wirft man einen Blick auf die aktuelle Medienlandschaft, dann bekommt man den Eindruck, dass die Mehrheit der Medienschaffenden glaubt, dass sich schlechte Nachrichten besser verkaufen als Gute – ganz nach dem Motto: „If it bleeds, it leads.

Im Zeitalter der schnellen Nachrichten, wo etablierte Nachrichtenagenturen mit Twitter im Wettstreit um bahnbrechende Neuigkeiten stehen, ist es also verlockend, hohe Klickzahlen mithilfe schockierender oder schlechter Nachrichten zu erzielen. Und wenn man sich dazu Statistiken anschaut, scheint dieses Konzept leider auch aufzugehen. Eine Studie von Outbrain aus dem Jahr 2012 zeigt beispielsweise, dass die durchschnittliche Klickrate von Nachrichten, die Überschriften mit negativen Superlativen hatten, um 63 Prozent höher lag als die mit positiven Superlativen. Es scheint also eine Verzerrung hin zu negativen Nachrichten zu geben.

Welchen Einfluss hat das auf uns und unsere Wahrnehmung? Die Forschung zeigt, dass wir zu Fehleinschätzungen und Apathie neigen, wenn wir überwiegend negativen Nachrichten ausgesetzt sind.

Fehleinschätzungen

Eine Studie der britischen Marktforschungsorganisation Ipsos MORI, „The Perils of Perception“ (dt. „Die Tücken der Wahrnehmung”), zeigt, dass unsere Wahrnehmung der Welt oft nicht mit der Realität übereinstimmt – meist ist sie deutlich negativer. Forscher stellten Menschen in 38 Ländern die gleichen Fragen und fanden ein Muster: Die Einschätzung der Befragten zu unterschiedlichsten Themen wie Mord, Terrorismus, Teenager-Schwangerschaften, Gesundheit oder Alkoholkonsum war deutlich negativer als die eigentliche Faktenlage.

So fiel  die Mordrate seit dem Jahr 2000 um durchschnittlich 29 Prozent – aber nur sieben Prozent der Befragten glaubten auch, dass sie gesunken sei. In den meisten der Länder sank die Anzahl der Menschen signifikant, die in den vergangenen 15 Jahren bei Terroranschlägen ums Leben kamen, im Vergleich zum Zeitraum von 15 Jahren davor – doch nur jeder Fünfte der Befragten schätzte dies auch so ein.

Wenn du in einem der 38 Länder lebst, kannst du das Quiz hier selbst ausprobieren.

Apathie

Es ist wissenschaftlich erforscht – und auch nicht sonderlich überraschend –, dass der Konsum von negativ geprägten Nachrichten (im Gegensatz von Nachrichten mit positivem Inhalt) dazu führt, dass Menschen weniger motiviert und aktiv sind, um die Welt um sie herum positiv zu verändern. Dr. Denise Baden, außerordentliche Professorin an der Universität Southampton, befragte 2.000 Menschen und fand dabei heraus, dass die Teilnehmer zu „Ausgrenzung, Vermeidung, negativer Stimmung und Angst“ neigten, wenn ihnen Nachrichten auf eine negative Weise präsentiert wurden. Je schlechter sich die Menschen nach dem Konsum einer Nachrichtenmeldung fühlten, „desto unwahrscheinlicher war es, dass sie ihre Stimme erhoben oder gar aktiv wurden, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen“.

Die Problematik zeigt sich deutlich, wenn es um große Herausforderungen geht, die sehr komplex sind, wie z.B. den Klimawandel. Natürlich ist es wichtig, Informationen über die Auswirkungen des Klimawandels und der globalen Erwärmung zu verbreiten. Allerdings führt eine übertrieben negative Herangehensweise an das Thema zu etwas, das Victoria Herrmann, Geschäftsführerin des Arctic Institute, als „Weltuntergangserzählung“ bezeichnet:

„Die Geschichte, die man in der Zeitung liest oder die Dokumentation, die man auf Netflix schaut, prägen, was wir sehen und was nicht. Die Wahrnehmung dieses Sichtbaren bzw. Unsichtbaren verschiebt unsere Perspektiven. Und es sind diese Wahrnehmungen, auf deren Grundlage wir handeln. […] Die Erzählungen, die wir lesen, hören und sehen, informieren darüber, wie wir den Klimawandel verstehen. Und dieses Verständnis bestimmt, ob wir handeln – oder nicht.“

Damit wird deutlich: Positive, konstruktive Ansätze haben ein größeres Potenzial, Zielgruppen zu inspirieren und zu begeistern. Und andersherum ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir uns bemühen, etwas zu verändern, wenn uns das von vornherein als aussichtlos erscheint.

Was also ist die Lösung?

Wir müssen auch die andere Hälfte der Geschichten hören: Nicht nur die Probleme, sondern auch die Lösungen. Geschichten über Dinge, die funktionieren, über mögliche Kooperationen, über Visionäre und Revolutionäre und Menschen, die etwas verändern.

Genau das macht der konstruktive Journalismus.

Was ist konstruktiver Journalismus?

Der Begriff „konstruktiver Journalismus“ oder „Lösungsjournalismus“ wurde wahrscheinlich im Jahr 2015 wissenschaftlich geprägt. Es handelt sich um einen wachsenden Bereich innerhalb des Journalismus, der die traditionell eher negativ geprägten Paradigmen herausfordert. Er greift auf Konzepte aus der positiven Psychologie zurück, um konstruktive Lösungen in der Gesellschaft zu diskutieren und zu teilen.

Wieder einmal waren skandinavische Länder die Vorreiter: Als erste bezogen dänische und schwedische Sender konstruktive Elemente in ihre tägliche Nachrichtenberichterstattung ein. Anschließend etablierten sich Einrichtungen und Institute für konstruktiven Journalismus weltweit, u.a. das dänische Constructive Institute, das Solutions Journalism Network in den USA und das Constructive Journalism Project im Vereinigten Königreich. Und auch internationale Nachrichtenseiten nehmen vermehrt konstruktive Nachrichtenelemente in ihre Berichterstattung auf.

Beispiele dafür findest du in der „Good“-Sektion der Huffington Post, in der wöchentlichen Kolumne „Fixes“ der New York Times, auf der deutschen Plattform Perspective Daily und im BBC-Podcast People Fixing The World. Und natürlich seit 2007 auf RESET.org und unserer englischsprachigen Schwesterseite RESET International.

Was aber sind die wesentlichen Merkmale des konstruktiven Journalismus?

  • Konstruktiver Journalismus betrachtet nicht nur die Probleme, sondern fokussiert werden vor allem Lösungen. Betont werden dabei die Stärken und die Resilienz eines Themas.
  • Durch den Blick auf verschiedene Aspekte eines Themas wird eine komplexe und genaue Darstellung der Realität vermittelt.
  • Konstruktiver Journalismus konzentriert sich nicht nur auf gute Absichten, sondern auf eine nachweisbare Wirkung.
  • Voraussetzung ist eine sorgfältige und ausgewogene Recherche. Die Leser werden mit den notwendigen Informationen versorgt, die sie ermächtigen sollen, konstruktiv zu reagieren.
  • Konstruktiver Journalismus bleibt kritisch und sachlich und berücksichtigt auch die Limitierungen jedes (Lösungs-)Ansatzes.
  • Das Ziel ist, Informationen und Einblicke zu geben, die andere nutzen und darauf aufbauen können.

Auf den Punkt bringen lässt sich das hiermit: Der „traditionelle“ Journalismus stellt die Fragen: Wer? Was? Wo? Warum? und Wann? – Konstruktiver Journalismus fragt auch: Was jetzt? Was funktioniert? Wie kann das weiterentwickelt werden? Und was kann ich tun, um zu helfen?

Dabei ist Konstruktiver Journalismus nicht einfach gleichbedeutend mit „positivem Journalismus“, Wohlfühl-Geschichten und „locker-flockigen“ Geschichten über Menschen oder einmaligen Ereignisse mit geringer gesellschaftlicher Relevanz. Stattdessen berichten konstruktive Journalisten über Themen mit hoher gesellschaftlicher Relevanz und möglichen Lösungen, sie folgen dabei aber den gleichen journalistischen Grundsätzen wie im „klassischen“ Journalismus und bleiben integer, kritisch und investigativ.

Warum brauchen wir konstruktiven Journalismus?

1. Weil wir damit positive Veränderungen anstoßen können!

Wie oben schon erwähnt, ist in der Psychologie längst bekannt, dass konstruktive, lösungsorientierte Darstellungen die Leser sehr viel wahrscheinlicher dazu anregen, sich innerhalb ihrer Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft insgesamt auseinanderzusetzen, als eine überwiegend negative Berichterstattung.

Forschungen von Cathrine Gyldensted und Dr. Denise Baden an der Southampton Universität zum „Negativity Bias“ (negative Wahrnehmungsverzerrungen) in den News zeigten, dass Nachrichten mit einem positiven Ansatz „zu einer deutlich höheren Motivation führten, positive Maßnahmen zu ergreifen (für wohltätige Zwecke zu spenden, umweltfreundlich zu handeln, Meinungen zu äußern usw.) als negative Nachrichten.“

Und auch eine kürzlich an der University of East London durchgeführte Studie hat ergeben, dass „der Konsum positiver Nachrichten zu mehr Akzeptanz bei anderen und zu einem Gefühl von Gemeinschaft und Motivation führt sowie zu sozialem Wandel beitragen kann“.

Das heißt: Wir sind motiviert, etwas verändern, wenn wir positive Beispiele bekommen.

2. Weil es das ist, was die Leute lesen wollen.

Zwar bekommen Storys mit negativen Schlagzeilen häufig mehr Klicks, aber Studien konnten zeigen, dass es „konstruktive“ Geschichten sind, die am häufigsten geteilt werden. Nachrichten, die in der Rubrik „What’s Working“ der Huffington Post veröffentlicht werden, werden im Durchschnitt dreimal so oft geteilt wie andere Inhalte der Website. Eine Studie der Universität Pennsylvania zu viralen Nachrichten und Emotionen untersuchte die Einträge auf der Liste der meist per Mail geteilten Inhalte der New York Times und stellte auch hier fest, dass „positive“ Artikel stets häufiger geteilt wurden als „negative“.

Und was waren wohl die beliebtesten Tweets aus dem Jahr 2017? Nein, die kamen nicht etwa von Trump, sondern es waren die Kommentare von Obama, in denen er Vielfalt feiert und Hass anprangert.

3. Weil es (noch) nicht genug davon gibt.

Studien zeigen, dass es eine große Nachfrage nach konstruktiven Nachrichten gibt, vor allem bei jungen Menschen. Rund zwei Drittel, 64 Prozent der unter 35-Jährigen gaben in einer Umfrage des BBC World Service an, dass sie „Nachrichten wollen, die Lösungen für Probleme bieten, nicht nur Nachrichten, die sie über bestimmte Themen informieren“. Das zeigt auch der  Relaunch des konstruktiven Journalismus-Magazins Positive News, der mit einer Viertelmillion Britischen Pfund in nur 30 Tagen finanziert wurde.

Der Guardian befragte außerdem Fokusgruppen, welche Erzählungen sie in der nächsten Kampagne zum Klimawandel lesen wollten. Die eindeutige Antwort: „Lösungsgeschichten“ bzw. „positive Klimaerzählungen“.

Die Zukunft des konstruktiven Journalismus

Journalistische Inhalte können die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, verändern – und sie können auch unseren Glauben in unsere Fähigkeit, einen positiven Wandel zu bewirken, beeinflussen. Gestützt auf dieses Verständnis und inspiriert von dem Wunsch, eine nachhaltige Zukunft zu schaffen, sind wir sehr optimistisch, dass die Bewegung des Konstruktiven Journalismus weiter wachsen wird.

RESET und andere lösungsorientierte Magazine und Plattformen sind der Überzeugung, dass es nicht nur unsere Aufgabe ist, darüber zu informieren, was in der Welt vor sich geht (und auch über das, was schief geht), sondern auch unsere Pflicht, die Debatte über ein besseres Morgen zu ermöglichen. Wir wollen eine Plattform für Lösungen und visionäre Ideen sein, die eine bessere/ nachhaltigere Welt Wirklichkeit werden lassen können. Wir wollen Informationen, Handlungsanreize und Alternativen bieten, denn wir glauben, dass wir die Probleme von heute und morgen nicht mit der gleichen gestrigen Denkweise lösen können, die sie erst geschaffen haben.

Wie wir diesen Anspruch bei RESET umsetzen?

Eine sozial und ökologisch gerechte Welt können wir nur schaffen, wenn wir ein Verständnis für die vorhandenen Probleme mit einer visionären Perspektive verbinden, Hoffnung für die Zukunft haben und überzeugt sind, dass jeder Einzelne die Möglichkeit zum Handeln hat.

Was waren noch gleich die drei Probleme, an die du am Anfang dieses Artikels gedacht hast?

Vielleicht sind die Lösungen doch nicht so fern…

Autorin: Marisa Pettit, Übersetzung aus dem Englischen: Lydia Skrabania (RESET-Redaktion Juli 2018)

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