Erinnere dich an das letzte Kleidungsstück, das du gekauft hast. Bevor es bei dir im Schrank gelandet ist, hat es schon vor der Fertigung mehrere Stadien durchlaufen. Es begann als Idee in den Köpfen der Designer:innen. Dann war es eine Skizze in ihrem Notizbuch. Die Skizze wurde in ein Muster umgewandelt, bevor ein physisches Muster erstellt wurde. Dieses Muster durchlief wahrscheinlich mehrere Feedback-Runden mit vielen Beteiligten aus verschiedenen Ländern. Jedes Mal, wenn jemand das fertige Stück ändern wollte, musste das Muster neu entworfen, der Artikel neu genäht und das Muster zur Genehmigung erneut in die ganze Welt verschickt werden. Wenn alle Designer:innen, Manager:innen und Großhändler:innen schließlich zufrieden waren, wurde der Artikel in großen Mengen produziert. Und, bevor er in deinem digitalen oder realen Einkaufskorb landete, ein weiteres Mal verschickt.
Es mag kaum verwundern, dass dieser energie- und materialintensive Prozess nicht gerade umweltschonend ist. Die Modeindustrie ist für ihre Umweltverschmutzung berüchtigt. 35 Prozent der Materialien in der Lieferkette der Modebranche enden als Abfall und 20 Prozent aller produzierten Kleidungsstücke erreichen die Verbraucher:innen erst gar nicht.
3D-Sampling könnte die Verschwendung in der Lieferkette der Modebranche verringern
Doch es gibt Fortschritte in der digitalen Modebranche, mit denen die physischen Muster der Vergangenheit angehören könnten. So ist es möglich, mithilfe von 3D-Modellierungstechnologie fotorealistische Muster der Entwürfe zu erstellen. Dabei werden bestimmte Stoffe mit ihren realen Eigenschaften programmiert, so dass die Designer:innen sehen können, wie sich das Gewicht und der Fluss des Stoffes auf ihre Entwürfe auswirken. Die Anpassung eines Musters ist mit ein paar Klicks erledigt, statt stundenlang am Zeichenbrett zu sitzen. Und da diese Dateien digital zwischen Designer:innen, Zulieferern und anderen Beteiligten ausgetauscht werden können, könnte die Technologie die Komplexität, den Zeitaufwand und die Transportwege in den Lieferketten der Modebranche drastisch reduzieren.
Auch wenn das 3D-Sampling aufgrund des hohen Energieverbrauchs der digitalen Anwendung selbst CO2-Emissionen verantwortet, werden bei der digital unterstützen Herstellung von Kleidung 24,8 Prozent weniger CO2 und 48 Prozent weniger Material verbraucht als bei herkömmlichen Herstellungsverfahren. Da die Modeindustrie für 10 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich ist, ist ein Wandel in dieser Branche dringend erforderlich. Ist 3D-Mode dafür eine Lösung?
Macht die 3D-Sampling-Technologie die Herstellung von Kleidung zu einfach?
RESET sprach mit Claudia Pan Vázquez, 3D-Managerin bei VILA, darüber, wie 3D-Sampling den Herstellungsprozess der Marke verändert hat. Neben der Verbesserung der Effizienz und der Reduzierung von Abfall in der Lieferkette wies sie auf die Flexibilität hin, die diese kürzere Lieferkette bietet. „Wir wissen nicht, ob sich eine Pufferjacke im Oktober verkaufen wird, weil sie zu warm ist“, sagt sie und erklärt, dass es für Marken viel besser sei, Kleidung näher an der kommenden Saison zu entwickeln. Die 3D-Modetechnologie bietet die Möglichkeit, einen maßgeschneiderten Ansatz zu verfolgen, d. h. Marken können bei der Markteinführung von Produkten spontaner sein und ihr Angebot an realen Bedingungen – wie zum Beispiel dem Wetter – und Trends ausrichten.
Pan Vázquez geht davon aus, dass dadurch die Verschwendung reduziert wird. Aber nicht alle sehen das so. Olga Chkanikova und Rudrajeet Pal erklären in ihrem Artikel „Exploring the nature of digital transformation in the fashion industry„, dass ein Nachteil des 3D-Samplings „die Replikation des schnellen Konsumverhaltens in der digitalen Welt“ ist. Einfacher ausgedrückt: Sind die kürzeren Lieferketten, die 3D-Muster ermöglichen, genau das, was die Modeindustrie weiter in ihrer Schnelllebigkeit unterstützt?
Die Modebranche muss ihr trendorientiertes Modell aufbrechen
In den letzten Jahren sind Fast-Fashion-Marken schneller denn je geworden. Die Nachahmung von Prominenten-Looks ist zur Norm geworden. 2019 hat Fashion Nova in nur 24 Stunden eine Replik des Vintage-Mugler-Kleids erstellt, das Kim Kardashian bei den Hollywood Beauty Awards trug. Die zunehmende Verbreitung der 3D-Mode-Technologie wird es Marken ermöglichen, sich bei ihren Designs noch mehr an Trends zu orientieren. Die Zeit, die für die Markteinführung von Kleidung benötigt wird, wird dadurch drastisch reduziert. Auch Pan Vázquez beantwortet die Frage, ob die 3D-Modetechnologie bedeutet, dass mehr Kleidung hergestellt wird, mit einem klaren „Ja“.
Wenn sie entsprechend eingesetzt wird, hat das 3D-Sampling zweifellos das Potenzial, die verschwenderische Lieferkette der Mode zu unterbrechen. Eine gute digitale Vorbereitung spart dann im besten Fall Materialien und Überschuss in der Lieferkette. Dennoch können die digitalen Lösungen auch das komplette Gegenteil bewirken. Hoffen wir, dass dies ein Weckruf für eine Branche ist, die schon viel zu lange Ästhetik und Profit über die Menschen und den Planeten gestellt hat.