Interview: stadtnavi Herrenberg – lokal, multimodal und Open Source zur nachhaltigen Mobilität

© stadtnavi Herrenberg

Das stadtnavi bringt die Bewohner*innen der Stadt Herrenberg multimodal von A nach B. Warum die Stadt für seine Mobilitätsapp einen Open-Source-Ansatz gewählt hat und wie damit die Mobilitätswende vorangetrieben wird, dazu Projektleiterin Jana Zieger im Interview.

Autor*in Sarah-Indra Jungblut, 27.03.23

Übersetzung Lana O'Sullivan:

Wer in Herrenberg durch die historische Altstadt spaziert, erwartet wahrscheinlich nicht unbedingt, dass die selbst ernannte “Mittmachstadt” gemeinsam mit ihren Bürger*innen ein Modellprojekt für ein modern vernetztes Mobilitätskonzept aufgebaut und damit eine lokale Alternative zu internationalen Anbietern wie Google und Co. geschaffen hat.

Die Mobilitätsapp stadtnavi verknüpft alle verfügbaren Mobilitätsangebote in der Region, macht eine multimodale Routenplanung möglich und setzt dabei auf einen Open-Source-Ansatz. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV).

Seit Mai 2022 leitet Jana Zieger das Projekt stadtnavi Herrenberg. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie das Projekt entstanden ist, warum sich die Stadt gegen ein fertiges Produkt eines Privatunternehmens entschieden hat und wie Mobilitätsapps die Verkehrswende vorantreiben.

RESET: Jana, wie entstand die Idee zum stadtnavi?

In unserer 33.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Kommune hatten wir ein Problem: Um das Jahr 2018 herum wurden die Stickstoffdioxid-Grenzwerte regelmäßig überschritten. Die Gründe lagen auf der Hand: Zu viel Autoverkehr und eine zu geringe Nutzung umweltfreundlicher Verkehrsmittel. Wir sind eine Stadt der kurzen Wege und es gibt viele gute Alternativen zum Auto. Damit sie mehr Leute in Anspruch nehmen, braucht es aber übersichtliche Informationen darüber, welche Kombination dieser Möglichkeiten am schnellsten zum Ziel führt.

Aus diesem Grund haben wir das stadtnavi entwickelt. Meine Kolleginnen und Kollegen haben zu Beginn viele Monate lang mit Anbietern bereits etablierter Lösungen von Privatunternehmen gesprochen. Doch kein Angebot konnte unsere Anforderungen erfüllen. Wir wollten freie Lizenzen, keine Werbung und auch nicht die Daten der Nutzer*innen hergeben. Außerdem wollten wir eine Lösung, die auch andere Kommunen und Regionen kostengünstig verwenden können und die keine dauerhafte Abhängigkeit von einem Anbieter schafft.

Welche Vorteile ergeben sich aus Mobilitätsplattformen für die Nutzer*innen?

Für unsere Bürgerinnen und Bürger, die das stadtnavi für ihre Routenplanung nutzen, ergeben sich vor allem drei große Vorteile. Einerseits zeigt die Reiseauskunft die emissionsarmen Verkehrsmittel zuerst an, etwa eine Wege-Kombination aus Fahrrad-Bus-Bahn. Hier wird besonders darauf geachtet, dass den Nutzer*innen schnelle Wege präsentiert werden. Außerdem zeigt sich oft, dass durch eine Verkettung mehrerer umweltfreundlicher Mobilitätsoptionen doch nochmal deutlich Zeit eingespart werden kann, was dann den ein oder die andere dazu bewegt, das Auto stehenzulassen.

Neben dem Fokus auf intermodaler Routenplanung enthält stadtnavi zudem lokal spezifische Informationen wie zum Beispiel: Wo finde ich die nächste Radstation? Bietet jemand auf meiner Strecke eine Mitfahrgelegenheit an? Gibt es in der Innenstadt gerade freie Parkplätze? Ist am Bahnhof ein Taxi frei? Wo kann ich ein Lastenfahrrad ausleihen und wie viele Leihfahrräder sind gerade verfügbar? Über stadtnavi lassen sich zudem Mitfahrangebote direkt inserieren.

stadtnavi bietet auch die Möglichkeit, lokale nachhaltige Mobilitätsangebote einzubinden und zu fördern, die bei den großen kommerziellen Routingangeboten unter den Tisch fallen. Ganz im Sinne der „Mitmachstadt Herrenberg“ wurde stadtnavi für die Bürgerinnen entwickelt und soll für sie und mit ihnen weiterentwickelt werden. In diesem Jahr finden dafür mehrere Mitmach-Aktionen statt, in denen unsere Bürger*innen die Zukunft des stadtnavis mitgestalten können. Daneben ist auch die Open-Source- und Open-Data-Community weiterhin an der Realisierung von stadtnavi maßgeblich beteiligt. Eine wichtige Grundlage sind beispielsweise die Daten von OpenStreetMap, die kontinuierlich von vielen Engagierten in ihrer Freizeit gepflegt und erweitert werden.

© KEA-BW
stadtnavi verknüpft die verschiedenen Fortbewegungsmittel, so dass beispielsweise auch angezeigt wird, wenn die Kombination aus Rad und ÖPNV am schnellsten zum Ziel führt.

Und gibt es auch Vorteile für die Kommune und den Verkehrsverbund?

Ja, auch die Betreiber profitieren auf jeden Fall. Das Aufsetzen und Betreiben einer stadtnavi-Instanz ist für Kommunen ein Instrument, die Komplexität der eigenen Mobilitätsdaten zu managen. Das heißt: Analysieren, welche Daten in welcher Qualität vorhanden sind, fehlende Daten zu generieren, oder im Austausch mit anderen Akteuren zu beschaffen und mithilfe der geschaffenen Strukturen intelligente digitale Lösungen für nachhaltige Mobilität zu ermöglichen und das Thema Smart City voranzutreiben.

Ich gehe davon aus, dass Mobilitätsdaten und Open Data für die öffentliche Daseinsvorsorge in der Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen werden. Nur wenn man eine gute Datengrundlage hat, können digitale Lösungen für nachhaltige Mobilität entstehen. Das heißt, man muss wissen, welche Daten es gibt, diese in guter und maschinenlesbarer Qualität zur Verfügung haben und die Daten offen, kostenlos für alle zur Verfügung stellen. Das stadtnavi ist zum Kopieren, Mitmachen und Weiterentwickeln gedacht; als Open-Source-Projekt ist es von jeder Kommune oder jeder Region ohne Lizenzgebühren kopier- und einsetzbar. Damit profitiert jeder auch von den Weiterentwicklungen der anderen.

Damit dies funktioniert, muss man sich natürlich auch gut vernetzen, da bin ich aktuell dabei, das weiter auszubauen.

Ihr legt aber auch einen besonderen Wert auf Datensparsamkeit, oder?

Ja, es werden keine Daten von Nutzer*innen getrackt und keine Routinganfragen im Hintergrund protokolliert. Bei den Daten, die wir nutzen, handelt es sich nur um Mobilitätsdaten, wie beispielsweise Echtzeitdaten von S-Bahnen, Fahrplandaten, Standortdaten von Sharingfahrzeugen. Wir erheben fast keine nutzungsbezogenen Daten und die wenigen Daten, die erhoben werden, werden nach europäischem Datenschutzrecht anonym und sicher gespeichert. Ebenso ist ausgeschlossen, dass sich die Daten einer einzelnen Person zuordnen lassen, mit stadtnavi können keine persönlichen Bewegungsprofile erstellt werden.

Warum hat nicht schon jede Kommune eine Mobilitätsplattform?

Dazu würde ich zuerst einmal sagen, dass es bereits viele Kommunen oder auch Landkreise und Regionen mit eigener Mobilitätsplattform gibt. Aufgebaut auf dem stadtnavi Herrenberg haben zum Beispiel der Landkreis Reutlingen, die Stadt Ludwigsburg, der Verkehrsverbund Pforzheim und das Land Brandenburg. Neben diesen gibt es natürlich auch noch viele mit anderen Modellen. Es ist ein sehr dynamisches Feld, in dem sich viel bewegt und viele weitere Plattformen sind bereits im Aufbau oder in Planung.

Warum noch nicht alle? Das hat sicherlich ganz unterschiedliche Gründe – von den Klassikern wie fehlenden personellen und finanziellen Kapazitäten, anderen Schwerpunktsetzungen bis hin zu themenspezifischen Gründen wie der Komplexität und der teilweisen schlechten Verfügbarkeit von Mobilitätsdaten.

Dennoch möchte ich hier auch die Frage der Sinnhaftigkeit stellen: Ist es wirklich sinnvoll, dass jede Kommune ihre eigene Mobilitätsplattform aufbaut? Für mich ist die Antwort: Es kommt darauf an, wie. Dass immer wieder aufs Neue auch proprietäre Lösungen geschaffen werden, die nicht oder schwer von anderen übernommen werden können und Abhängigkeiten schaffen, sehe ich etwas kritisch. Aus diesem Grund halte ich den Open-Source-Ansatz von stadtnavi für so vielversprechend, denn er ist ein Gegenkonzept zu immer neuen Insellösungen.

© KEA-BW
App-Entwicklung, die nah an der Stadt und den Bürger*innen ist, ist auch immer Teamwork.

Welche Herausforderungen ergeben sich beim Vernetzen sämtlicher Mobilitätsangebote einer Region auf einer kommunalen Plattform? Es ist bestimmt nicht leicht, eine solche (Daten)Schnittstelle zu schaffen, oder?

Ja, vor allem die Datenverfügbarkeit und -qualität sind Herausforderungen. Wir setzen auf sogenannte „Offene Daten“, denn alle notwendigen Mobilitätsdaten einzukaufen wäre gerade für kleine Kommunen unter Umständen sehr kostspielig.

Kommunen, die bei sich eine stadtnavi-Instanz aufsetzen möchten, sollten unbedingt darauf achten, dass sie bei der Zusammenarbeit mit Sharing-Anbietern oder Anbietern von E-Ladesäulen schon bei der Vergabe entsprechende Regelungen treffen, dass beispielsweise die Daten zum Standort und zum Belegungs-Status den Kommunen als Open Data zur Verfügung gestellt werden und für Anwendungen wie das stadtnavi kostenlos genutzt werden dürfen. Und wenn man hier immer wieder anstupst und darauf hinweist, dass Mobilitätsanbieter ihre Daten zuverlässig, offen und in besserer Qualität zur Verfügung stellen müssen, damit man diese ins stadtnavi integrieren kann, geht es langfristig mit dem Thema offene Mobilitätsdaten auf allen Ebenen auch besser voran.

Welche Daten waren für euch besonders wichtig?

Eine Priorisierung kann ich hier nicht wirklich vornehmen. Wir möchten alle Mobilitätsformen integrieren, um Alternativen zum motorisierten Individualverkehr sichtbar zu machen. Dafür nutzen wir einerseits unsere lokalen und regionalen Daten, die wir teilweise zum Beispiel mittels LoRaWAN Sensoren erheben. Dann sind ganz wichtig auch die Daten, die uns von der Open-Data-Community wie beispielsweise Open Street Maps zur Verfügung gestellt werden. Und essenziell sind auch Daten von MobiData BW.

Die MobiData BW der NVBW

Die Datenplattform MobiData BW des Landes Baden-Württembergs arbeitet darauf hin, dass immer mehr Mobilitätsdaten zentral gebündelt und offen bereitgestellt werden.
So können die Mobilitätsinformationen dann viel leichter in verschiedene Anwendung eingebunden werden.

Spielen auch CO2-Emissionen der jeweiligen Routenoptionen eine Rolle, werden diese angezeigt?

Aktuell zeigen wir die CO2-Emissionen noch nicht an, einfach, weil das in der ersten Entwicklungsphase noch nicht mit budgetiert war. Technisch wäre es möglich und es ist tatsächlich eine Idee, über die wir gerade auch mit anderen Instanzen sprechen und die ich sehr spannend finde!

Was meinst du, wie werden sich Mobilitätsplattformen weiterentwickeln?

Definitiv werden Echtzeit-Daten immer wichtiger werden, denn sie vereinfachen eine nahtlose und zuverlässige Mobilität ungemein. Ich hoffe auch sehr darauf, dass sich im Bereich der Buchungen in den nächsten Jahren einiges tun wird – und zwar unabhängig von Verbundgrenzen und Verkehrsmitteln. Das ist zwar kein Thema, was wir als Kommune stemmen können, aber wir freuen uns, dabei zu unterstützen, wo es in unserem Einflussbereich liegt.

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Der große Vorteil von Google Maps ist es ja, fast in jeder Stadt weltweit mehr oder weniger zuverlässig zu funktionieren. Braucht es da wirklich regionale Plattformen?

Google Maps & Co. sehe ich weniger als Konkurrenz, sondern vielmehr als gegenseitige Ergänzung. Ich persönlich bin auch ein großer Fan davon, Google Maps in anderen Städten als Anlaufstelle zu haben und mich damit orientieren zu können. Immer wieder merke ich da aber auch, dass ich eine Kombination aus regionalen Apps und Google Maps nutze, weil ich auf mehr lokale Informationen angewiesen bin. Auch den Umgang mit personenbezogenen Daten darf man durchaus kritisch sehen.

Den großen Mehrwert von regionalen Plattformen sehe ich unter anderem darin, dass die Betreiber von regionalen Plattformen – also bspw. Kommunen – viel individuellere Gestaltungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten haben und bewusst Schwerpunkte wie Klima- und Umweltschutz oder Verkehrslenkung in den Fokus rücken sowie ihre Bevölkerung beteiligen können.

Auch bei uns gibt es schon viele Ideen, gezielt Anreize für nachhaltige Mobilität über stadtnavi zu setzen. Bonussysteme und die Anzeige der CO2-Emissionen wären da konkrete Beispiele. Lokale, kulturelle und nachhaltige Angebote zu stärken und mehr Informationen zum lokalen Klima und Orten für Abkühlung im Sommer einzubinden wäre auch möglich.

Wie wird das stadtnavi Herrenberg denn angenommen?

Tatsächlich sind wir momentan noch so datensparsam unterwegs, dass ich nicht mit eindeutigen Zahlen aufwarten kann. Was ich auf der Seite der Endnutzer*innen sagen kann, ist, dass bei der Anzahl der Seitenbesuche der Webversion ein kontinuierlicher Trend nach oben zu verzeichnen ist. Bei der App erheben wir dazu noch keine Daten. Insgesamt wollen wir den Bekanntheitsgrad unter den Endnutzer*innen aber mit Öffentlichkeitsarbeit in den nächsten Jahren unbedingt noch steigern.

Was die betreibende Ebene angeht: Hier erreichen mich im Schnitt beinahe wöchentlich Anfragen von interessierten Kommunen, die sich informieren möchten, wie sie mitmachen können. Das Interesse ist also sehr groß!

Was ist deine Vision: Wie sieht die Mobilität der Zukunft aus?

In der Zukunft wird die Mobilität noch viel multimodaler stattfinden als heute. In meiner persönlichen Zukunftsvision hat sich das Straßenbild – nicht nur in Herrenberg, sondern überall – vollkommen gewandelt. Das Bild wird geprägt von Fahrrädern, Lastenrädern, E-Bikes, intelligenten Sharing-Fahrzeugen, Fußverkehr und ÖPNV.

Dadurch, dass weniger PKW Plätze am Straßenrand benötigt werden, gibt es ausreichend Platz für viel Grün und Flächen mit hoher Aufenthaltsqualität. Umweltfreundliche Alternativen sind so viel bequemer, schneller, flexibler und günstiger geworden, dass man auf einen eigenen PKW nicht mehr angewiesen ist.
Auch Personen, die beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen spezielle Anforderungen an die Mobilität haben, werden in allen Aspekten mitbedacht und profitieren von einer barrierefreien Mobilität. In meiner Vision der Zukunft verknüpfen Anwendungen wie das stadtnavi die Mobilität bundesweit und machen einen schnellen Umstieg zwischen den Verkehrsmitteln und den intermodalen Ticketkauf spielend leicht möglich.

Es ist ruhiger auf den Straßen, da es keinen Motorenlärm mehr gibt; die Luft ist gut und es gibt eine gerechtere Verteilung des öffentlichen Raums. Der Verkehrssektor in der Bundesrepublik macht keine Schlagzeilen mehr damit, dass die Klimaziele nicht eingehalten werden, denn umweltfreundliche Mobilität ist der Standard und funktioniert super.

Und was meinst du wie der Weg dahin aussieht? Was ist nötig, damit mehr Menschen bereit sind, auf ihr Auto zu verzichten?

Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir sowohl Push-Maßnahmen, wie beispielsweise höhere Parkplatzgebühren und Zufahrtsbeschränkungen, als auch Pull-Maßnahmen, also ein gutes Angebot an Alternativen und Anreizen benötigen, damit die Menschen bereit sind, auf ihr Auto zu verzichten bzw. das auch überhaupt können. Die Stadt Herrenberg hat sich hier zum Ziel gesetzt, besonders den Fuß- und Radverkehr sowie den ÖPNV zu stärken und sich am Prinzip der Stadt der kurzen Wege zu orientieren.

Aber die Mobilitätswende beginnt im Kopf. Darum sind auch Veranstaltungen wie das Herrenberger Streetlife Festival, welches im Jahr 2022 Premiere feierte, von äußerster Wichtigkeit. Hier wurde temporär eine Bundesstraße für den Autoverkehr gesperrt und die Seestraße zum Schauplatz für ein vielfältiges Kultur- und Erlebnisprogramm.

Jana, vielen Dank für das Interview!

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Dieser Artikel gehört zum Dossier „Mobilitätswende – Smart in Richtung Klimaneutralität“. Das Dossier ist Teil der Projekt-Förderung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), in deren Rahmen wir vier Dossiers zum Thema „Mission Klimaneutralität – Mit digitalen Lösungen die Transformation vorantreiben“ erstellen.

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