In der Stadt Gießen wird ein rund 7,9 Hektar großes Forschungsprojekt mit über 400 Wohneinheiten und einem Gewerbegebiet unter der Bezeichnung EnEff:Stadt FlexQuartier realisiert. Ziel des Bauprojekts ist, ein Energieeffizienzquartier mit aktivierbaren Speichertechnologien zu planen, errichten und untersuchen. Außerdem soll das Quartier hinsichtlich seiner Flexibilisierung und Sektorenkopplung analysiert werden. Aus diesem Grund sind neben der Stadt Gießen, dem Bauträger Depant und der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) zusätzlich lokale Stromanbieter sowie Netzbetreiber am Verbundprojekt beteiligt.
Aus BIM wird QIM
Für das Forschungsprojekt haben die Wissenschaftler*innen die BIM-Arbeitsmethode modifiziert und an den Umfang der Quartiersgröße und den Forschungsfokus angepasst. Herausgekommen ist das Quartiers-Informations-Modell (QIM).
Building Information Modeling (BIM) – übersetzt Bauwerksdatenmodellierung – beschreibt eine Methode der vernetzten Planung, Umsetzung und Verwaltung von Gebäuden und Quartieren mithilfe von spezieller Software. Dafür werden alle relevanten Gebäudedaten erfasst, kombiniert und digital modelliert. Im Anschluss wird daraus ein virtuelles Modell erstellt, das die verschiedenen Arbeitsabläufe übersichtlicher und einfacher gestalten soll.
Das Quartiers-Informations-Modell in Gießen beinhaltet alle bereits erwähnten Eigenschaften des BIM-Systems, aber wird um energetische und auswertende Aspekte erweitert. So ist es erstmals möglich, die ehemals getrennten Disziplinen der Energieerzeugung, -verteilung und -speicherung der Energiesystemtechnik mit dem Energiebedarf auf Quartiers-, Infrastruktur- und Gebäudeebene – also der Architektur und baulichen Infrastruktur – in Beziehung zu setzen.
Besonderheiten des Modellprojekts EnEff:Stadt FlexQuartier Gießen
Das Bauprojekt hat den Anspruch, die Verbrauchssektoren Strom, Wärme und Verkehr mittels des modifizierten BIM-Ansatzes intelligent miteinander zu koppeln. Dazu wird für die Energiezentrale des Quartiers eine neuartige Hochtemperatur-Speichertechnologie (Power-to-Heat-and-Power) entwickelt. Diese ist mit einem multifunktionalen Batteriespeicher für Strom und einem zentralen Warmwasser-Schichtenspeicher für Abwärme verbunden.
„Wir verfolgen im Gießener Quartier einen LowEx-Ansatz. Das heißt, die Energiezentrale ist so konzipiert, dass die Gebäude auch mit Niedertemperaturwärme wie der Abwärme des Wärmespeichers oder Umgebungswärme versorgt werden können. Hierdurch sparen wir erhebliche Mengen Primärenergie ein“, erklärt Projektmitarbeiter Felix Holy von der Technischen Hochschule Mittelhessen. So entsteht am Ende unter Verwendung des Quartiers-Informations-Modells eine hochflexible und effiziente Speicher- und Nutzungskette innerhalb des Forschungsquartiers. Zusätzlich werden Elektromobilität und Ladestationen als weitere Verbrauchssektoren integriert.
Im Bereich der Primärenergie wird das Quartier außerdem mittels Strom aus Photovoltaikanlagen versorgt. Daraus gewonnene Energieüberschüsse können sowohl kurz- als auch mittelfristig im quartierseigenen Hybridspeichersystem aufgenommen werden.
Darüber hinaus kann das Speichersystem für Energie- und Systemdienstleistungen über die Quartiersgrenzen hinweg genutzt werden – beispielsweise zur Einspeisung in das Gießener Fernwärmenetz. „Durch die unkomplizierte Einspeicherung erneuerbarer Energien in Zeiten hoher Produktion und eine zeitversetzte Rückgewinnung von Strom und Wärme können ganze städtische Quartiere versorgt werden. Das System liefert Energie für Haushalte, Gewerbe und auch Elektrofahrzeuge“, berichtet Felix Holy.
Die Zukunft der BIM-Methodik
Ende 2023 soll die Energiezentrale in Betrieb genommen werden. Danach wird es im Rahmen des Forschungsprojekts eine vierjährige Validierungsphase mithilfe von QIM geben, in der unter anderem Einsatzgrenzen, Geschäftsmodelle und die Verfügbarkeit der Technologie näher untersucht werden. So können weitere Anpassungen und Verbesserungen am Energieeffizienzquartier und der BIM-Methode selbst vorgenommen werden.
Gebäude sind ein CO2-Schwergewicht: Das Bauen, Wärmen, Kühlen und Entsorgen unserer Häuser hat einen Anteil von rund 40 Prozent an den CO2-Emissionen Deutschlands. Unsere Klimaziele erreichen wir nur, wenn diese Emissionen massiv gesenkt werden.
Wie aber gelingt die nachhaltige Transformation der Gebäude und welche Rolle spielen digitale Lösungen dabei? Das RESET-Greenbook gibt Antworten: Gebäudewende – Häuser und Quartiere intelligent transformieren
Gebäude sind ein CO2-Schwergewicht: Das Bauen, Wärmen, Kühlen und Entsorgen unserer Häuser hat einen Anteil von rund 40 Prozent an den CO2-Emissionen Deutschlands. Unsere Klimaziele erreichen wir nur, wenn diese Emissionen massiv gesenkt werden.
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Schon jetzt ist für Felix Holy jedoch klar, dass mit BIM „sowohl komplexe Anforderungen von Bauprojekten bereits von Anfang an berücksichtigt und so spätere Änderungskosten und -verzögerungen minimiert werden als auch erhebliche Fortschritte in der Energieeffizienz und Betriebssteuerung erzielt werden können.“
Im Gegensatz zu konventionell energieverbrauchenden Wohngebieten optimiert die modifizierte BIM-Arbeitsmethode in diesem Forschungsprojekt die Planung und Umsetzung eines intelligenten und vielseitig regelbaren Quartiers. Dieses könnte zukünftig als Vorreiter energieaktiver, dezentraler Wohngebiete dienen und damit sowohl die Energiewende als auch die Gebäudewende gleichzeitig vorantreiben.
BIM und der digitale Zwilling
Eine Frage bleibt zum Schluss vielleicht noch offen: Worin liegt der Unterschied zwischen BIM und sogenannten „digitalen Zwillingen“? Das Building Information Modeling kann als statisches Modell begriffen werden. Dabei wird ein virtuelles Gebäudemodell erstellt, welches die Grundlage für eine vernetzte Planung, den Bau und die Verwaltung darstellt. Im Gegensatz dazu ist ein digitaler Zwilling ein dynamisches Modell, welches ein digitales Abbild von realen Dingen wiedergibt. Dazu wird aus Daten, die in Echtzeit von Sensoren in vielen Dimensionen aufgenommen werden, eine Nachbildung erstellt.
Beide Technologien können einzeln verwendet werden – entfalten jedoch laut Baubranchenexpert*innen wie Daniel Smolilo, Amrita Bajwa und Jeffrey W. Ouellette ihr größtes Potenzial in der gemeinsamen Anwendung. In den kommenden Jahren könnte so bei Bauprojekten zunächst mit BIM eine solide Planungsgrundlage geschaffen werden, die durch einen digitalen Zwilling in der Gebäudeumsetzung und -verwaltung detaillierte Echtzeitinformationen liefert und tagesaktuelle Validierungen für schnelle Anpassungen zulässt.
Dieser Artikel gehört zum Dossier „Gebäudewende – Häuser und Quartiere intelligent transformieren“. Das Dossier ist Teil der Projekt-Förderung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), in deren Rahmen wir vier Dossiers zum Thema „Mission Klimaneutralität – Mit digitalen Lösungen die Transformation vorantreiben“ erstellen.