Gesundheitsversorgung per App: Wie „Hera“ Geflüchteten hilft und dabei mitreisen kann

Hera Digital Health
© Hera Digital Health

Die Hera-App hilft Geflüchteten bei der Gesundheitsversorgung. Der Vorteil: Anders als analoge Lösungen kann die App mitreisen.

Autor*in Kezia Rice:

Übersetzung Benjamin Lucks, 17.03.25

Hera Digital Health unterstützt Geflüchtete, indem sie ihnen per Smartphone-App Zugang zur Gesundheitsversorgung verschaffen. Wir haben mit der Gründerin Aral Sürmeli über den Impact von Hera, den Vorteile digitaler Systeme und die Bedeutung von Open-Source gesprochen.

Aral, mit welchen Problemen haben Geflüchtete zu kämpfen, wenn es um den Zugang zur Gesundheitsversorgung geht?

Derzeit gibt es weltweit 140 Millionen gewaltsam vertriebene Menschen. Wären sie ein Land, so hätten sie die schlechtesten Gesundheitsergebnisse aller Nationen. Sie hätten die niedrigsten Impfraten für Kinder und eine überdurchschnittlich hohe Müttersterblichkeit.

Dazu tragen mehrere Faktoren bei. Erstens erhöht die Vertreibung die Krankheitslast. Der Verlust der Heimat, des sozialen Netzes und manchmal sogar der Familie fordert einen hohen Tribut. Wir wissen auch, dass sich bestehende Krankheiten verschlimmern, wenn die Gesundheitsvorsorge – etwa Impfungen oder pränatale Untersuchungen – nicht gewährleistet ist. Stell dir einmal vor, du müsstest dich in einem Gesundheitssystem zurechtfinden, dessen Sprache du nicht verstehst. Und das an einem Ort liegt, an dem du nicht einmal weißt, wo du medizinische Hilfe bekommen kannst. Hinzu kommt, dass viele Geflüchtete unter dem psychischen und physischen Trauma der Flucht und der Vertreibung leiden und dass psychische Erkrankungen bei geflüchteten Menschen sehr häufig vorkommen. Dennoch ist der Zugang zu medizinischer Versorgung nach wie vor begrenzt.

Woher kam die Idee für Hera?

Es begann mit meiner ersten gemeinnützigen Organisation, MEDAK – Medical Rescue Association of Turkey -, die ich 2013 gegründet habe. Zunächst lag unser Schwerpunkt auf der medizinischen Katastrophenhilfe, aber als sich die Flüchtlingskrise verschärfte, arbeiteten wir mit vertriebenen Gemeinschaften in der Türkei. Angesichts der über vier Millionen Geflüchteten im Land boten wir entlang der Grenze und in Istanbul, wo sich die meisten Geflüchteten aufhielten, medizinische Hilfe an. Eines fiel auf: Alle Geflüchteten, mit denen wir arbeiteten, hatten Mobiltelefone. Telefone waren kein Luxus, sie waren eine Lebensader. Mit den Geräten kommunizierten sie mit ihren Familien, die über verschiedene Teile der Welt verteilt waren. Und sie halfen ihnen dabei, Informationen über die ihnen zur Verfügung stehenden Dienste zu erhalten.

Noch während meines Medizinstudiums absolvierte ich ein Praktikum am Harvard Global Health Center in Dubai. Dort arbeitete ich mit einem unglaublichen Professor an digitalen Gesundheitslösungen. Diese Erfahrung öffnete mir die Augen für das Potenzial der Technologie im Gesundheitswesen. Als ich in die Türkei zurückkehrte, begann ich darüber nachzudenken, wie die digitale Gesundheit Geflüchtete unterstützen könnte. Obwohl die Gesundheitsversorgung in der Türkei kostenlos ist, wissen Geflüchtete häufig nicht, wohin sie sich wenden sollen, welche Leistungen sie in Anspruch nehmen können oder wie sie sich im System zurechtfinden. Die Sprachbarriere, sich ändernde Vorschriften und mangelndes Bewusstsein schaffen dabei große Lücken. Ich sah die Möglichkeit, eine Lösung zu entwickeln, die darauf basiert, wie Geflüchtete bereits auf Informationen zugreifen – über ihre Telefone.

So entstand HERA, ein digitales Tool, das Geflüchteten dabei hilft, auf Gesundheitsinformationen zuzugreifen, ihre Krankenakten digital zu führen und Termine für Impfungen und Schwangerschaftsvorsorge zu planen.

hera digital health
© Hera Digital Health
Die Hera-App in Aktion

Kannst du einige Beispiele dafür nennen, wie Hera arbeitet?

Im vergangenen Jahr hat HERA 180.000 Menschen erreicht. Mehr als 3.000 Geflüchtete haben unsere Tools genutzt, um das nächstgelegene Gesundheitszentrum ausfindig zu machen und Übersetzungsfunktionen für die Kommunikation mit Ärzten zu nutzen. Rund 2.000 Mütter haben sich über unser System über die Impfungen ihrer Kinder und die Schwangerschaftsvorsorge informiert. Darüber hinaus haben wir für über 5.000 Personen Schulungen zur Gesundheitskompetenz durchgeführt, in denen Themen wie Gesundheit von Müttern, Kinderbetreuung und Gesundheitsrechte von Geflüchteten behandelt wurden. Als Reaktion auf das Erdbeben von 2023 haben wir Tausende von wichtigen Gesundheits- und Hygieneartikeln verteilt.

Ob es darum geht, Geflüchtete mit Gesundheitsdiensten in Kontakt zu bringen oder ihnen zu helfen, ihre Rechte zu verstehen – unser Ziel ist es, Hindernisse zu beseitigen und sicherzustellen, dass sie in Würde behandelt werden können.

Welche Vorteile hat ein digitales Werkzeug gegenüber analogen Systemen?

Digitale Lösungen sind im Vergleich zu papiergestützten Systemen skalierbarer, mobiler und anpassungsfähiger. Sie erfordern weniger physische Infrastruktur und können in bestehende Gesundheitstechnologien integriert werden. Vor allem aber ermöglichen digitale Tools den Austausch von Informationen in Echtzeit – sei es die Benachrichtigung über die Eröffnung neuer Gesundheitszentren oder die Bereitstellung aktueller Hinweise zu Impfplänen.

Ein weiterer entscheidender Vorteil ist die Mobilität. Viele Menschen gehen davon aus, dass Geflüchtete einmal umziehen und sich an einem neuen Ort niederlassen. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch oft um eine kontinuierliche Vertreibung – die Menschen ziehen über Städte, Grenzen und sogar Kontinente hinweg. Ein papiergestütztes System kann mit dieser Art von Mobilität nicht Schritt halten, ein digitales Gesundheitstool hingegen geht mit ihnen mit.

Analoge Systeme sind auch schwieriger zu ändern. Die Bedürfnisse von Geflüchteten ändern sich schnell, und digitale Lösungen ermöglichen es uns, flexibler auf diese sich entwickelnden Herausforderungen zu reagieren.

Wie garantiert ihr die Datensicherheit?

Die Daten von Geflüchteten sind unglaublich sensibel. Viele Geflüchtete wissen nicht, wem sie vertrauen können. Deshalb ist der Datenschutz nicht nur eine rechtliche Anforderung, sondern ein Grundprinzip unserer Arbeit. HERA hält sich an internationale Datenschutzstandards wie HIPAA und die DSGVO. Darüber hinaus stellen wir sicher, dass die Nutzenden die alleinigen Eigentümer ihrer Daten bleiben. HERA sammelt keine persönlichen Gesundheitsdaten, es sei denn, die Nutzenden geben ausdrücklich ihre Zustimmung. Die Plattform ist so konzipiert, dass Geflüchtete ihre eigenen medizinischen Daten digital speichern können, ohne dass HERA Zugriff darauf hat. Auf diese Weise können sie bei einem Arztbesuch ihre Unterlagen einfach auf ihrem Handy abrufen, anstatt sich auf Papiere zu verlassen, die verloren gehen oder beschädigt werden können. Alles ist verschlüsselt und die Sicherheit der Nutzenden hat oberste Priorität.

Habt ihr bei der Entwicklung auf Nachhaltigkeit geachtet?

Durch die Ausrichtung auf die Digitalisierung verringern wir bereits unsere Umweltauswirkungen, indem wir die Abhängigkeit von der physischen Infrastruktur minimieren. Aber darüber hinaus konzentrieren wir uns auf verschiedene Weise auf Nachhaltigkeit.

Erstens ist alles, was wir entwickeln, Open Source. Das bedeutet, dass andere Organisationen unsere Tools nutzen können, ohne sie von Grund auf neu entwickeln zu müssen. Dadurch wird unnötige Doppelarbeit vermieden. Wir sorgen auch dafür, dass wir uns in bestehende Plattformen integrieren, anstatt das Rad neu zu erfinden. Anstatt eine neue Messaging-Plattform zu entwickeln, nutzen wir beispielsweise WhatsApp, womit Geflüchtete bereits vertraut sind. Und indem wir die Entwicklung und den Einsatz unserer Technologie optimieren, minimieren wir den Energieverbrauch und maximieren gleichzeitig die Wirkung.

hera digital health turkey map
© Hera Digital Health
Während des Erdbebens in der Türkei 2023 teilte Hera seine Open-Source-Software mit einer NRO.

Welche eurer digitalen Tools sind Open Source? Wurden sie schon von anderen Organisationen genutzt?

Wir glauben, dass wir nur durch Zusammenarbeit wirklich etwas bewirken können. Jedes von uns entwickelte Tool ist quelloffen, ohne Gatekeeping. Wir arbeiten aktiv mit anderen Organisationen zusammen, um unsere Lösungen in ihre Programme zu integrieren. Ein gutes Beispiel dafür war das Erdbeben in [der Türkei] im Jahr 2023. Wir haben uns mit einer internationalen NGO zusammengetan, um unser Kartierungstool für Gesundheitszentren mit ihrem Service Locator zu kombinieren. Unmittelbar nach der Katastrophe wurden jeden Tag neue mobile Kliniken eingerichtet, aber es gab keine zentrale Möglichkeit, sie zu verfolgen. Wir passten unseren bestehenden WhatsApp-Chatbot so an, dass die Helfenden den Standort der Klinik per WhatsApp übermitteln konnten – genau so, wie sie einen Standort mit einem Freund teilen würden. Der Chatbot kartografierte den Standort dann in Echtzeit und ermöglichte es den Geflüchteten, die nächstgelegenen Gesundheitsdienste zu finden.

Diese Art von Flexibilität ist es, die digitale Werkzeuge so leistungsfähig macht. Die Bedürfnisse von Vertriebenen ändern sich ständig und unsere Lösungen müssen sich mit ihnen weiterentwickeln.

Aral, vielen Dank für das Interview!

Fluchtorte als Stolperstein oder Sprungbrett: KI-Modell GeoMatch soll Geflüchtete besser zuordnen

Geflüchtete stehen in europäischen Ländern vor zu vielen Herausforderungen. Kann das neue KI-Modell "GeoMatch" dieses Problem lösen?

Neue Tracking-Technologie soll das Vertrauen in die humanitäre Hilfe auf der letzten Meile wiederherstellen

Gewalt, Korruption und ineffiziente Infrastrukturen können die Bereitstellung humanitärer Hilfe erschweren. Track & Trust soll die letzte Meile zu den Hilfsbedürftigen erleichtern.

Handy spenden und Leben retten: „Wir packen’s an“ sammelt alte Smartphones für Flüchtende

Statt in der Schublade zu liegen, könnte euer altes Handy Menschen auf Fluchtrouten helfen. Der Verein “Wir packen’s an” verrät, wie’s funktioniert.

Interview: Kann Radartechnologie bei der Seenotrettung Geflüchteter helfen?

Jedes Jahr ertrinken tausende Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer. Ein Radar-Detektor soll ermöglichen, dass Seenotretter*innen schneller reagieren können. Peter Lanz im Interview.

Diese modernen, von Origami inspirierten Notunterkünfte können in Minutenschnelle aufgebaut werden

In der Katastrophenhilfe sind Lebensmittel, medizinische Versorgung und auch Unterkünfte gefragt. Ein in New York ansässiges Architekturbüro will letzteres einfacher und erschwinglicher machen.

Ein digitales Handbuch hilft Geflüchteten beim Ankommen

Wer neu in Deutschland ist, hat jede Menge Fragen. Das Projekt Handbook Germany liefert die wichtigsten Antworten und Tipps für Neuankömmlinge.

Aid:Tech verteilt digitale Identitäten und sichere Spenden mithilfe der Blockchain

Aid:Tech will verhindern, dass Entwicklungshilfsgelder durch Korruption oder Betrug verloren gehen – und erschafft mit der Blockchain eine direkte, unkorrumpierbare Beziehung zwischen Gebern und Begünstigten.

Ein Algorithmus könnte dabei helfen, Geflüchtete besser zu vermitteln

Forscher haben einen neuen Algorithmus entwickelt, der dabei hilft, in der neuen Heimat passende Orte für Geflüchtete zu finden.