Beim Herumkramen im Kühlschrank findet man einen Joghurt, der nach hinten gerutscht ist und vergessen wurde. Ein kurzer Check des Mindesthaltbarkeitsdatums zeigt: abgelaufen. Es wagen und den Joghurt nach Seh- und Geruchsprobe trotzdem essen oder doch lieber in den Müll? Solche Szenarien spielen sich tagtäglich in den deutschen Haushalten ab. Und viel zu oft landet das besagte Produkt dann doch im Müll, meist sogar ohne, dass eine Seh- oder Geruchsprobe vorgenommen wurde. Rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel im Jahr werden laut einer aktuellen Studie des Thünen-Instituts vor dem Verzehr entsorgt. Etwa die Hälfte davon wird in den Haushalten weggeworfen. Das sind etwa 75 Kilo pro Kopf im Jahr. Laut besagter Studie wären über die untersuchten Sektoren hinweg – also in der Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung, im Handel, Außer-Haus-Verzehr und in den Haushalten – etwa die Hälfte der Abfälle theoretisch vermeidbar.
Das Projekt FreshAnalytics, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Rahmen des Technologieprogramms „Smarte Datenwirtschaft“ gefördert wird, hat das Ziel, eine Plattform zu entwickeln, die mithilfe Künstlicher Intelligenz die Lebensmittelkette optimieren kann. Unter anderem wird dabei der Punkt „Mindesthaltbarkeitsdatum“ (MHD) aufgegriffen. Das MHD ist ein Garantieversprechen der Hersteller, dass das Produkt bis zum angegebenen Datum ungeöffnet bei richtiger Lagerung seine produktspezifischen Eigenschaften wie Geschmack und Geruch behält. Das bedeutet, dass Produkte mit überschrittenem MHD – im Gegensatz zu Produkten mit einem Verbrauchsdatum – meist noch sehr viel länger über das Datum hinaus genießbar sind. Trotzdem schreckt ein übertretenes Mindesthaltbarkeitsdatum viele Menschen davon ab, das Produkt noch zu verzehren – oder es wird bereits im Supermarkt entsorgt.
FreshAnalytics ist eine Weiterführung des Projekts FreshIndex, das bereits 2018 startete. Im Vorgängerprojekt wurde ein Echtzeit-Haltbarkeitsindikator entwickelt, das sogenannte dynamische Haltbarkeitsdatum. Der Index basiert auf den Hygienedaten der Hersteller und den tatsächlichen Lagerbedingungen und wird in einer Cloud-Applikation umgesetzt. Denn für die Qualität vieler Lebensmittel ist die richtige Temperatur bei Lagerung und Transport elementar. Dabei wird der Index nicht wie das MHD aufgedruckt, sondern er lässt sich per App auslesen, über digitale Preisschilder anzeigen oder kann im Online-Shop in der Produktinformation vermerkt werden. Somit kann das Datum dynamisch bleiben und sich den Umständen, z.B. den Bedingungen der Lagerung, anpassen.
Um diesen Index zu generieren, sind mehrere Komponenten nötig. Zum einen wurde an einer Big Data Cloud für die Lieferkette von Lebensmittel gearbeitet. Und „big“ sind diese Daten auf alle Fälle. Falls es zu einer deutschlandweiten Nutzung kommen sollte, entspräche das jährlich 250 Milliarden Produkten mit durchschnittlich je 2.000 Messwerten über die Produktlebenszeit. Ein weiterer Punkt ist die Nutzung bereits bestehender Informationsquellen der Produkte. Entlang der Wertschöpfungskette werden schon jetzt von verschiedenen Organisationen Informationen generiert, die von FreshIndex genutzt werden können.
Im Rahmen des Projektes wurde außerdem eine App entwickelt, die im Sommer 2019 über sechs Wochen hinweg in vier Filialen der METRO getestet wurden. Mit der App lässt sich der Barcode eines Produktes einscannen, hinter dem Informationen über die aktuelle Frische, die verbleibenden Tage bis zum Ablauf des dynamischen Haltbarkeitsdatums sowie Informationen zu Produkt, Hersteller, Nachhaltigkeitsaspekten und Lebensmittelsicherheit zu finden sind. Außerdem lässt sich über Regler die jeweilige Transportdauer und Temperatur sowie die Kühlschranktemperatur eingestellen, die dann wiederum Auswirkungen auf das dynamische Haltbarkeitsdatum haben können.
Ein digitales Basissystem fürs Datenmanagement der Lebensmittelkette
Das Projekt ist nun unter dem Namen FreshAnalytics in die zweite Phase gestartet und entwickelt die Ansätze von FreshIndex weiter. Das Ziel von FreshAnalytics ist es, ein digitales Basissystems für ein einheitliches Datenmanagement entlang der Lebensmittelkette zu entwickeln und eine lebensmittelspezifische Tool-Bibliothek bereitzustellen. Diese Tool-Bibliothek soll unter anderem mit dem dynamischen Haltbarkeitsdatum eine Ergänzung zum Mindesthaltbarkeitsdatum liefern. Weitere Zielstellungen sind unter anderem die Optimierung logistischer Prozesse, die Abwicklung von Regressansprüchen sowie die Reduktion von Lebensmittelverschwendung in Haushalten durch eine digitales Konsumenten-Informations-System mit Kühlschrankmanagement. Die Basis-Cloud von FreshAnalytics soll nach eigenen Angaben als dezentrales System mit einheitlicher Rechte- und Datenschutzstruktur entworfen werden, wobei als Teil der Funktionalität die reale Lieferkette mittels eines digitalen Zwillings („Digital Twin“) eins zu eins abbildbar sein soll. Um die Nachvollziehbarkeit der Datenpfade und Auswertungen zu erhöhen, sollen zudem Ansätze aus den Bereichen der Künstlichen Intelligenz und der Datenvisualisierung genutzt werden.
Im Konsortium von FreshAnalytics arbeiten die IT-Unternehmen Tsenso und Arconis mit der Universität Siegen, der Technischen Hochschule Deggendorf und dem Unternehmen GS1 Germany zusammen.
Auch andere Projekte haben das Ziel, die Lebensmittelverschwendung entlang der Lebensmittelkette zu reduzieren. Wir haben bei RESET zum Beispiel kürzlich das Projekt REIF vorgestellt, das Künstliche Intelligenz einsetzt, um Stellschrauben zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung bei der Molke-, Fleisch- und Bäckereiproduktion zu identifizieren. Den Artikel dazu findest du hier.
Wie kann KI im Umwelt- und Klimaschutz wirkungsvoll eingesetzt werden? Welche spannenden Projekte gibt es? Was sind die sozial-ökologischen Risiken der Technologie und wie sehen Löungen aus? Antworten und konkrete Handlungsempfehlungen geben wir in unserem Greenbook(1) „KI und Nachhaltigkeit – Können wir mit Rechenleistung den Planeten retten?“.
Dieser Artikel ist Teil des Dosssiers „Künstliche Intelligenz – Können wir mit Rechenleistung unseren Planeten retten?“. Alle Artikel des Dossiers findest du hier: Dossier KI
Das Dossier ist Teil der Projekt-Förderung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), in deren Rahmen wir vier Dossiers über zwei Jahre zum Thema „Chancen und Potenziale der Digitalisierung für eine nachhaltige Entwicklung“ erstellen.
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