In Essen – wie auch in anderen deutschen Städten – ist die Situation für Radfahrende nicht optimal. An vielen Straßen fehlen Radwege oder sie enden unvermittelt und sorgen so für Unsicherheiten. Außerdem behindern Hindernisse und ein schlechter Zustand die komfortable Fortbewegung auf zwei Rädern. Das zeigen beispielsweise die Umfragedaten des ADFC-Fahrradklimatests. Und im Städteranking des ADFC aus dem Jahr 2022 landete Essen auf dem letzten Platz der Städte mit über 500.000 Einwohner:innen. Die Stadt im Ruhrgebiet ist also eine klassische Autostadt, eine Verkehrswende nicht in Sicht.
Auch wenn es schon Ansätze gibt, um die Situation zu verbessern, ist der Ausbaubedarf sehr hoch. Die „Hauptfahrradstraße“ in Essen, die RÜ, ist eines der eindrücklichsten Beispiele. Hier werden immer wieder neue Verkehrsversuche gestartet, aber von echter Fahrradfreundlichkeit ist dort noch immer nichts zu sehen. Mit welchen Maßnahmen sich die Situation für Radfahrende wirklich verbessern könnte, daran haben Schüler:innen der Stadt Essen im Rahmen des Projekts „Verkehrswende in Essen“ gearbeitet. Ihr wichtigstes Tool: Eine mobile Messtation an ihren Fahrrädern.
Unterwegs im Straßenverkehr mit der senseBox:bike
Wie dicht werden Radfahrende von Autos überholt? Wie steht es um den Zustand von Radwegen? Und wie gut sind Ampelphasen auf nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer:innen abgestimmt? Antworten auf diese Fragen sagen viel über die Sicherheit und den Komfort für Radfahrende aus. Doch sie sind mitunter schwer zu erfassen. Abhilfe schafft hier die mehrfach ausgezeichnete mobile und modulare Messtation für Umweltdaten, die senseBox:bike. Im Projekt „Verkehrswende in Essen“, das von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gefördert wird, montierten Schüler:innen verschiedener Essener Schulen die kompakte Box an ihr Fahrrad und sammelten damit Daten auf ihren Alltagswegen. Die verschiedenen Sensoren der Messgeräte haben dabei gemessen, wie die Überholabstände vorbeifahrender Autos waren, Erschütterungen durch Radwegeschäden oder Geschwindigkeiten aufgezeichnet sowie das Anhalteverhalten an Ampeln oder im Stau registriert.
Den großen Datensatz haben die Schüler:innen dann mit dem Online-Tool ArcGIS zu Karten zusammengeführt, die ein Gesamtbild der Situation für Radfahrende geben. „Anhand dieser kann man schwarz auf weiß sehen, was im Radverkehr schiefläuft“, sagt Lisa Wieczorek, die das Projekt am Institut für Didaktik der Geographie an der Uni Münster leitet. “Die Daten erlauben es, konkret zu zeigen, wo es wie aussieht und an welchen Stellen man vielleicht zuerst ran muss. Sie geben also ganz neue Einblicke und erlauben es zugleich, ein anderes Verständnis für das Thema anzubahnen.“
Daten führen zu Aha-Momenten bei den Schüler:innen
Wieczorek berichtet, dass viele der teilnehmenden Jugendlichen Aha-Momente hatten. Natürlich hatten sie schon vor der Datensammlung eine Idee der Situation für Radfahrende. Aber ihre quantifizierbaren und damit auch greifbareren Ergebnisse erschütterten sie teilweise selbst. „Also ich würde sagen, dass die Fahrradwege auf jeden Fall momentan katastrophal sind. Das kann nicht sein, dass wir Fahrrad fahren und überall sind Schlaglöcher. Man kann sich verletzen“, erzählt Ilias, Neuntklässler an einer beteiligten Schule in Essen. Und der Schüler Maximilian aus der Oberstufe berichtet aus dem Projekt: „Ich bin zum ersten Mal darauf aufmerksam geworden, wie die Fahrradstruktur überhaupt funktioniert. Und wenn man sich das wirklich genau anschaut, dann merkt man, wie viele Probleme da eigentlich sind und wie viel man daran verbessern könnte.“
Genau das ist auch der nächste Schritt des Projekts: Die Karten zeigen evidenzbasiert die Problemstellen. Daraus erarbeiten die Schüler:innen konkrete Maßnahmenvorschläge zur Verbesserung des Radverkehrs. Diese werden aber nicht einfach im Klassenzimmer an die Wand gepinnt, um hier irgendwann einzustauben. Die Initiative RadEntscheid Essen, die das Projekt als Lokalpartner unterstützt, will mit den erhobenen Daten der Jugendlichen weiter arbeiten.
In der Vergangenheit hätte es immer wieder Versuche seitens der Initiative gegeben, mehr junge Menschen einzubeziehen, aber mit wenig Erfolg, sagt Wieczorek. Durch das Projekt erhält der RadEntscheid Essen weitere Anregungen aus ihrer Perspektive. Und natürlich erhofft man sich hier auch langfristig Unterstützung aus den Reihen der Jugendlichen.
Aufbruchstimmung in Essen
Der Zeitpunkt, die Perspektiven der Schüler:innen einzubeziehen, scheint günstig, denn in Essen ist eine gewisse Aufbruchsstimmung im Radverkehr spürbar. Seit 2019 gibt es in der Stadt den RadEntscheid. Ein Bürgerbegehren hat in dessen Rahmen zentrale Ziele für die Verbesserung des Radverkehrs entwickelt und bei der Stadt eingereicht. Mitte 2020 hat Essen sich verpflichtet, die Ziele auch tatsächlich umzusetzen.
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Die Initiative wächst stetig weiter, zudem haben sich Stadtteilgruppen gebildet, die in den Vierteln selbst aktiv sind. Außerdem sind diverse Projekte entstanden, wie zum Beispiel der Mapathon, bei dem Menschen gemeinsam ein Wunschradwegenetz für Essen entwerfen konnten, Repair-Nachmittage, Kidical Mass-Fahrten oder der Verleih des Openbike-Sensors, der ähnlich wie die senseBox:bike Daten sammeln kann.
School for Future oder: Geographieunterricht wird greifbar
Das Projekt „Verkehrswende in Essen“ ist am Institut für Didaktik der Geographie der Universität Münster angesiedelt. Außerdem sind das Institut für Geoinformatik sowie das daraus ausgegründete Startup re:edu daran beteiligt. re:edu nutzt schon seit Jahren die senseBox als modularen Baukasten für Umweltmessungen in verschiedenen Bereichen, unter anderem an Schulen. Je nach Modulen ist die senseBox auch in der Lage, Feinstaub- und Lärmbelastungen aufzuzeichnen. Im Rahmen des Projekts wurde die modulare Messstation schüler:innenfreundlich weiterentwickelt und angepasst.
Von dem Projekt profitiert nicht nur der RadEntscheid Essen, sondern auch alle anderen Beteiligten. „Die Geoinformatik und re:edu profitieren von uns, indem wir im Rahmen des Projekts ein didaktisches Konzept entwickelt haben, um die senseBox:bike auch jungen Menschen näherzubringen“, so Lisa Wieczorek. Und auch für die Geographiedidaktik der Uni Münster ist das Projekt eine Chance, neue Ideen und Konzepte für einen innovativen und lebensweltnahen Unterricht zu erproben.
In der Geographiedidaktik begreift man Geographie als das Zukunftsfach, in dem sämtliche gesellschaftlich relevanten Themen und Fragen verhandelt werden. Doch der Unterricht selbst bleibt – wie sicherlich auch viele andere Fächer – oft noch sehr abstrakt und lebensfern. „Warum stellt man Schüler:innen im Unterricht die Aufgabe, einen fiktiven Brief an die Stadtverwaltung zu schreiben und auf Schwachstellen im Radverkehr aufmerksam zu machen und macht es nicht einfach mal?!“, fragt Wieczorek daher.
Bürger:innen engagieren sich für eine bessere Luft – mit Sensoren an Balkonen und Hauswänden
Die Luft in unseren Städten ist schadstoffbelastet. Mit Sensoren können Bürger*innen Messwerte erheben – und so Quellen aufdecken und Druck auf die Politik aufbauen.
Indem die Schüler:innen das eigene Viertel auf Rädern erkunden, Daten sammeln und gemeinsam auswerten, wird für sie das komplexe Thema Verkehr und Verkehrswende greifbarer. Und sie lernen dabei, wissenschaftlich zu arbeiten und eigene Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. „Wir wollen die Jugendlichen dazu befähigen, sich im Sinne der BNE [Bildung für nachhaltige Entwicklung, Anmerkung der Redaktion] und einer damit verbundenen Handlungskompetenz, in reale gesellschaftlichen Fragen einbringen zu können, um die Gesellschaft bereits jetzt schon mit zu gestalten“, so Lisa Wieczorek.
Insbesondere im Einsatz von digitalen Geomedien steckt die Möglichkeiten für neue Lehr- und Lernformate. In Essen haben die Schüler:innen die senseBox:bike selbst zusammengebaut und so gelernt, was technisch dahintersteckt und wie der Prozess der Datenerhebung und -auswertung genau abläuft. Und sie erfahren Möglichkeiten, sich mithilfe der Daten und Ergebnissen in die Gestaltung der eigenen Stadt einzubringen.
Dass die Projektansätze bei den beteiligten Schüler:innen gut ankamen bestätigt Sarah, eine Achtklässlerin: „Am meisten hat mir gefallen, dass es ‘ne gute Mischung war aus Theorie und wir verstehen auch, was wir machen und Praxis und wir machen auch was selber. Wir haben die Boxen selber gebaut, wir sind selber rumgefahren und haben Daten gesammelt und haben die auch selber ausgewertet.“
Im Straßenverkehr haben Kinder und Jugendliche kaum Mitspracherecht
Bisher werden Kinder und Jugendliche kaum einbezogen, wenn es darum geht, wie Mobilität und Verkehr gestaltet werden. Dies belege auch die Fachliteratur im Bereich Stadtplanung, bestätigt Wieczorek. Doch die Verkehrsplanung hat genauso weitreichende Auswirkungen auf das Leben junger Menschen. Die Sicherheit der Rad-und Fußwege entscheidet maßgeblich darüber, wie sie sich fortbewegen können. „Ihre Ideen, Impulse und Anliegen können also auch bei der Gestaltung der geforderten Verkehrswende einen wichtigen und positiven Beitrag leisten“, so Lisa Wieczorek. Daher geben die Schüler:innen ihr Ergebnisse und Vorschläge auch an die Grüne Hauptstadtagentur Essen weiter, einem weiteren Projektpartner. In deren Mobilitätsabteilung werden u. a. Reallabore in Schulumfeldnähe zur Reduktion des Autoverkehrs durchgeführt.
„Uns war es dabei sehr wichtig, dass sie möglichst viel Freiraum und Mitbestimmung erfahren, um eigene Anliegen, Interessen und Ideen zu artikulieren und in den Diskurs einzubringen. Natürlich haben wir ihnen den Rahmen vorgegeben, indem wir beispielsweise zu bearbeitende Faktoren, die man mit der senseBox:bike erfassen kann, festgelegt und vorgegeben haben. Aber innerhalb dieser hatten die Jugendlichen selbst Spielräume und konnten sich frei entscheiden, womit sie sich genauer befassen wollen.“
Das Projekt „Verkehrswende“ geht weiter
Aus den Karten der Schüler:innen sind nun neben den „Problemkarten“ auch „Wunsch“- bzw. „Maßnahmenkarten“ für einen besseren Radverkehr in Essen entstanden, die der Stadt übergeben werden. Anfang 2025 endet das Projekt dann mit einer gemeinsamen Abschlussveranstaltung, bei der die Jugendlichen sich ihre Ergebnisse untereinander vorstellen und in den direkten Austausch mit den lokalen Projektpartner:innen treten. Dabei haben sie auch die Gelegenheit, ihre Ideen und Anliegen mit Politiker:innen zu diskutieren. „Da können wir, glaube ich, der Stadt wirklich was mitgeben“, ist der Essener Schüler Karol überzeugt.
Das Projektformat wird außerdem als Fortbildung für andere Schulen und Initiativen auf Basis der gewonnen Erfahrungen und der Begleitforschung von Lisa Wieczorek weiterentwickelt. Dazu sollen Arbeitsmaterialien sowie kurze Do-it-yourself-Videos zum Zusammenbau und dem Umgang mit der senseBox:Bike zur Verfügung gestellt werden. Zusätzlich entwickelt das Projektteam ein Workshopformat, das über re:edu angeboten werden soll und sich an Lehrkräfte, Kommunen oder Bürgerinitiativen richtet.
„Ob solche Projekte und Initiativen engagierter Menschen am Ende zu einer Verbesserung der Situation beitragen, ist immer mit Unsicherheiten verbunden. So hatten wir schon Schwierigkeiten, im Rahmen der Mobilitätswoche für fünf Tage die Straße vor zwei Projektschulen für den Autoverkehr zu sperren. Am Ende war die Straße dann für einen Vormittag gesperrt“, so Lisa Wieczorek. „Der Wille ist an vielen Stellen in der Stadt schon da, aber bis die Ziele der Verkehrswende in Essen tatsächlich realisiert sind, wird noch viel Zeit und Arbeit vergehen.“