Die wichtigste Zahl, die man aus der Klimadebatte mitnehmen sollte, ist 1,5. Denn das große Ziel ist es, den durchschnittlichen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius im Vergleich zur Durchschnittstemperatur vor der industriellen Revolution zu begrenzen. Bisher ist die Durchschnittstemperatur um etwa 1 Grad gestiegen. Um eine Chance zu haben, den Temperaturanstieg aufzuhalten, errechneten die Autor*innen des IPCC-Reports, dass allerspätestens bis zum Jahr 2030 die jährlichen Netto-CO2-Emissionen stark zurückgegangen sein müssen – um etwa 45 Prozent gegenüber dem Jahr 2010. Und bis spätestens 2050 müssen die Nettoemissionen „auf null“ gebracht werden.
Das 1,5-Grad-Ziel zu halten, das ist auch das erklärte Ziel des Übereinkommens von Paris, das 2015 verabschiedet wurde. Doch obgleich 92 Staaten das Abkommen ratifiziert haben, macht sich das Vorhaben bisher noch nicht im globalen Trend der CO2-Emissionen bemerkbar. So stiegen im Jahr 2019 alleine die CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen um 0,6 Prozent.
Es muss jetzt die Bremse gezogen werden und sehr bald eine Senkung der Treibhausgase in der Atmosphäre stattfinden. Und um dies zu erreichen, ist nicht zuletzt ein Umdenken in den Köpfen aller erforderlich. Eine Studie des PIK (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung) hat sich deshalb mit den Elementen für soziale Kippelemente beschäftigt, die es ermöglichen können, unseren Umgang mit CO2-Emissionen zu ändern. Das Team der Forschenden hat insgesamt sechs verschiedene sozio-ökonomische Kippelemente und die damit verbundenen gesellschaftliche Interventionen ausgemacht. Diese sechs Elemente sind:
- Energieproduktion und Speichersysteme,
- menschliche Siedlungen,
- Finanzmärkte,
- Normen und Wertesysteme,
- Bildungssystem,
- Informationen.
Die sechs identifizierten Elemente haben eines gemeinsam: Bereits eine kleine Intervention kann in ihnen zu großen Veränderungen führen. Außerdem wurde bei der Erarbeitung der Elemente mitbedacht, dass die Auswirkungen der Interventionen innerhalb der nächsten 15 Jahre spürbar sein muss, um sich im errechneten Rahmen des IPCC-Reports zu bewegen. Nichtsdestotrotz sollte gesellschaftliche Veränderung nicht allzu abrupt passieren, da sie historisch oft mit sozialen Unruhen und ähnlichem verbunden sind. Daher wurden hier explizit mit den 17 Zielen für eine Nachhaltigen Entwicklung gearbeitet. 133 Expert*innen nahmen für diese Studie an einer Befragung teil, um ihre Vorschläge einzubringen. 17 Expert*innen erarbeiteten dann in einem Workshop die wichtigsten Kriterien für sozio-ökonomische Kippmechanismen.
Energieproduktion und Speichersysteme spielen eine wichtige Rolle in der Dekarbonisierung unserer Welt. Die befragten Expert*innen in der Studie sehen die Entwicklung von Technologien in einer Schlüsselrolle, jedoch mehr in der Anpassung bereits bestehender Lösungen und einer intelligenteren Energienutzung als in der Erfindung komplett neuer Technologien. Ein entscheidender Auslöser für diesen Kipp-Prozess ist, wenn die CO2-freie Energieerzeugung finanziell lohnenswerter ist als fossile Brennstoffe zu nutzen. Und so langsam kommen wir auch dort hin. Die Preise für erneuerbare Energien sind in den letzten Jahren stark gesunken und sie sind in vielen Weltregionen bereits die billigste Energiequelle geworden. Die durchschnittlichen Kosten für Windenergie und Photovoltaik-Module sind in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Subventionen für erneuerbare Energien oder aber die Abschaffung von Subventionen für Technologien mit fossilen Brennstoffen wären ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Auch dezentralisierte Erzeugungssysteme und einen Übergang zur lokalen Stromerzeugung sehen die Expert*innen als Maßnahmen, die zu einer praktisch vollständigen Dekarbonisierung der Produktionssysteme führen können.
Im Bereich menschlicher Siedlungen können Änderung der Bauvorschriften für Bau- und Infrastrukturprojekte die Nachfrage nach Technologien ohne fossile Brennstoffe vorantreiben. Dies ist insbesondere für Länder des Globalen Südens, in denen der Bau-Boom den Verbrauch von Energie und anderen Ressourcen in die Höhe treibt, von entscheidender Bedeutung. Ein Beispiel für eine Maßnahme in diesem Bereich sind Demonstrationsprojekte wie „Climate Smart Cities“. Diese sind wichtig, um die breite Öffentlichkeit zu informieren und das Interesse der Verbraucher*innen an Umwelttechnologien zu fördern und ihre Verbreitung zu beschleunigen. Es gibt viele neue Baumaterialien, die nicht nur geringere Emissionen verursachen, sondern auch die Bemühungen um die Kohlenstoffbindung in städtischen Gebieten aktiv unterstützen könnten. So würde beispielsweise der Bau eines Wohngebäudes aus vorwiegend Holz nicht nur CO2 binden, sondern auch weitere CO2-Emissionen vermeiden, die sonst bei der Verwendung von Baumaterialien wie Stahl und Beton entstehen.
Ein weiterer Kipppunkt steckt im Finanzsektor. Hier ist die Desinvestitionsbewegung ein wichtiges Mittel für den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. Je mehr Investor*innen aus dem Bereich der fossilen Brennstoffe aussteigen, desto geringeren finanziellen Wert besitzen diese. In Europa gibt bereits Anzeichen für einen Wendepunkt, nämlich Kürzungen der finanziellen und versicherungstechnischen Unterstützung für Kohleprojekte. Norwegen beispielsweise entschied im letzten Jahr, im Staatsfonds Investitionen in Öl- und Kohleunternehmen zu kürzen und dafür mehr Gelder in erneuerbare Energien zu stecken.
Normen und Wertvorstellungen sind ein Thema, das über allen anderen steht. Denn wenig wird passieren, wenn dem Kampf gegen den Klimawandel nicht eine hohe Priorität eingeräumt wird. Normen können sich zum Beispiel durch soziale Netzwerke in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz entwickeln und bestimmte Lebensstile oder Technologieentscheidungen unterstützen. Je mehr Menschen also im Freundes- und Bekanntenkreis klimafreundliche Verhaltensweisen an den Tag legen und darüber sprechen, desto wahrscheinlicher wird man selbst das eigene Verhalten und die eigenen Wertvorstellungen ändern. Dieser Kipp-Punkt ist schwierig zu bestimmen, doch Proteste wie die #FridaysForFuture-Klimastreiks von Schüler*innen auf der ganzen Welt, Extinction Rebellion oder Initiativen wie der Green New Deal in den USA sind Indikatoren für diesen Wandel von Normen und Werten, der gerade stattfindet.
In diesem Zusammenhang kann auch die Kipp-Dynamik im Bildungssystem gesehen werden. Eine qualitativ hochwertige Bildung unterstützt und verstärkt laut der Autor*innen der Studie Normen und Werte und kann schnell zu Verhaltensänderungen führen. Die #FridaysForFuture-Proteste zum Beispiel zeigen, dass die kommende neue Generation die politische Szene radikal verändern könnte. Dennoch wird Bildung über die Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels, so wichtig sie auch sein mag, nicht ausreichen, um die Gesellschaft allein zu verändern. Nachhaltigkeit kann nicht aufgezwungen werden, sie muss gelernt werden, damit sie eigenständig realisiert und bewusst in die Tat umgesetzt wird.
Zu guter Letzt sind transparente und frei zugängliche Informationen ein wichtiges Element für soziale Kipp-Dynamiken. Sie können das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Verbraucher*innen schärfen und zu Änderungen des Lebensstils für eine klimaneutrale Lebensweise führen. So wie die meisten Produktverpackungen ernährungswissenschaftliche Fakten enthalten, schlagen einige Autoren vor, dass ein zweites Etikett „Erd-Fakten“ beinhalten könnte, das Informationen über den CO2-Fußabdruck und andere Emissionen offenbart.
Eins macht die Studie auf jeden Fall klar: Wege zur Bewältigung der Klimakrise sind vorhanden – sie müssen nur beschritten werden. Die von den Wissenschaftler*innen identifizierten Elemente sind alle auf die eine oder andere Weise miteinander verzahnt – und das Erreichen eines Kipp-Punktes beschleunigt das Erreichen der anderen. Konstante Forderungen nach konkreten Handlungen, insbesondere an die Politik, sind ein wesentlicher Bestandteil der nötigen Veränderungen – zum Beispiel beim nächsten großen Klimastreik am 24. April 2020.