Der Bus kommt wie gerufen. Eben die Haltestelle erreicht, schon nähert sich ein großer Doppeldeckerbus der Haltestelle. Das ist auch gut so, denn zusammen mit mir streben noch viele weitere Menschen der Bushaltstelle entgegen. Während alle einsteigen, sehe ich eine Rollstuhlfahrerin neben mir. Ob ich ihr in den Bus helfen könnte, frage ich sie. Sie verneint mit einem Blick auf ihr Smartphone und sagt, hier sei der Platz für Rollstühle schon belegt, aber im Bus, der nur noch wenige Meter von der Haltestelle entfernt ist, sei genug Platz. Auch andere Menschen bleiben an der Haltestelle stehen, nachdem alle Plätze im Bus belegt sind, denn sie wissen: Das nächste Fahrzeug wird in zwei Minuten hier halten.
So – oder so ähnlich – könnte ein komfortabler ÖPNV aussehen. Mit leicht zugänglichen, zuverlässigen Informationen, damit sich die Reise einfach gestalten lässt. Und mit einem am tatsächlichen Bedarf angepassten Angebot an Verbindungen und Fahrzeugen.
Die Zeit dafür ist mehr als reif, denn eine schlechte Luftqualität in den Städten, von Blechlawinen verstopfte Straßen und unverändert hohen CO2-Emissionen im Verkehr sollten uns zum Umdenken bewegen. Dabei geht es nicht nur darum, CO2-intensive Verbrenner möglichst schnell abzuschaffen und durch alternative Antriebe zu ersetzen, sondern auch den Druck von den Straßen zu nehmen und die Anzahl der Fahrzeuge massiv zu reduzieren. Da liegt es nahe, bereits vorhandene Strukturen, die sich schon als nachhaltig erwiesen haben, weiter auszubauen und attraktiver zu gestalten. Womit wir beim ÖPNV wären.
Den Komfort des Individualverkehrs mit den Vorteilen des ÖPNV verbinden
Die Idee hinter einem attraktiveren ÖPNV: Lösungen schaffen, die den Komfort des Individualverkehrs mit den Vorteilen des öffentlichen Personennahverkehrs verbinden. Dazu gehört einerseits eine am tatsächlichen Bedarf ausgerichtete Planung. Ist viel los, fahren größere Fahrzeuge dichter getaktet; ist wenig los, werden weniger kleinere Fahrzeuge losgeschickt. Andererseits müssen den Fahrgästen für ihre Reise wichtige Informationen leicht zugänglich bereitgestellt werden. Kommt mein Bus pünktlich? Gibt es genügend Sitzplätze im nächsten Fahrzeug und passt das Fahrrad noch rein? Informationen zur Belegung und aktuellen Verspätungszeiten machen die Fortbewegung mit Bus und Bahn zuverlässiger und besser planbar und zahlen so auf den Komfort des ÖPNV ein.
Die Voraussetzung dafür ist, dass die für diese Informationen wichtigen Daten erhoben und bereitgestellt werden. Die Realität sieht aktuell allerdings noch etwas anders aus. Der ÖPNV ist insbesondere in den großen Städten und Ballungszentren sehr gut ausgebaut, ohne Frage. Über digitale Anzeigen an Bahnsteigen stehen bereits wesentliche Informationen, zumindest zur Ankunft der nächsten Bahn oder des nächsten Busses, zur Verfügung – und manchmal auch zur Ausstattung für Menschen mit Einschränkungen. Und über die mobilen Apps der Verkehrsunternehmen, wie Jelbi in Berlin oder Switchh in Hamburg, sind sämtliche öffentlich zugängliche Verkehrsmittel miteinander verknüpft und die schnellsten Verbindungen einfach abrufbar.
„Tatsächlich steht Deutschland im internationalen Vergleich ganz gut da – der ÖPNV in Berlin beispielsweise wird oft in einem Zug mit Metropolen wie Tokyo, Shanghai oder auch London, Amsterdam und Paris genannt, wenn es um die Effizienz und vorhandene Infrastruktur geht“, sagt Jens Schmidt, Vorstand der Stadtwerke Gießen (SWG). „Im Bereich Digitalisierung ist jedoch sicher noch Luft nach oben – in Norwegen beispielsweise stehen verfügbare ÖPNV-Daten in Echtzeit frei zur Verfügung und das sogar in standardisierten, offenen Schnittstellen. Davon ist Deutschland noch weit entfernt. Auch in Städten wie Seoul in Südkorea oder Dubai wurde prozentual deutlich mehr in einen digitalen, innovativen und attraktiven Nahverkehr investiert“.
Echtzeitdaten? Fehlanzeige!
In der Verbindungsübersicht der Deutschen Bahn wird mittlerweile die erwartete Auslastung angezeigt. Besonders verlässlich ist diese Information allerdings nicht, denn nach eigenen Angaben basiert diese auf Prognosen. Die Datengrundlage sind dabei die Anzahl der Buchungen von Sparpreisen mit Zugbindung und die Zugauslastung in der Vergangenheit. Auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben basieren die Informationen zur Auslastung auf Hochrechnungen. Echtzeitdaten werden jedoch bei beiden bisher nicht integriert, womit das Ganze ziemlich vage bleibt.
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Das hat unter anderem damit zu tun, dass Echtzeitinformationen schwer verfügbar sind. „Oft sind bereits nutzbare Daten vorhanden, insbesondere in den proprietären Systemen der Hersteller von Fahrzeugsysteme. Diese sind allerdings in vielen Fällen aufgrund von Zugriffsberechtigungen oder fehlendem Knowhow nicht leicht verfügbar zu machen und in der Regel nicht in einem standardisierten Format gespeichert, was eine schnelle und effiziente Nutzung deutlich erschwert“, sagt Schmidt.
Das heißt, dass es einerseits helfen könnte, diese Daten für bessere Prognosen den Verkehrsbetrieben in öffentlicher Hand leichter zugänglich zu machen. Gleichzeitig geht es darum, weitere Daten zu gewinnen. Auch wenn schon heute alle Busse und Bahnen mit GPS ausgestattet sind und sich so ihre Wege und Standorte verfolgen lassen, werden Fahrgastzahlen dagegen kaum erhoben. Digitale Fahrgastzähler sind hier eine Lösung – doch das würde ein riesiges Investitionsvolumen erfordern. Aber vielleicht ist das auch gar nicht mehr unbedingt notwendig.
Mit unter anderem der Hilfe von KI lassen sich bereits sehr akkurate Prognosen zur Belegung in öffentlichen Verkehrsmitteln erstellen.
NV-ProVI: KI unterstützt bei der Erstellung von Prognosen
Im Rahmen von NV-ProVI, einem Kooperationsprojekt der Stadtwerke Gießen zusammen mit den Data Analyst*innen von Brodtmann Consulting, wurde ein auf künstlicher Intelligenz basierender Algorithmus entwickelt, der mithilfe von Echtzeitdaten Prognosen für den ÖPNV in den nächsten Stunden erstellt – ebenfalls in Echtzeit.
„Die von uns realisierte Echtzeitauskunft bildet das reale Verkehrsgeschehen ohne Zeitversatz ab, was in Deutschland so in der Form bislang nur vereinzelt umgesetzt wird“, so Schmid, der das Projekt leitet. In die Prognosen der KI fließen neben den eigentlich ÖPNV-Echtzeitdaten – die aktuelle Position und Belegung – und dem historischen Verlauf dieser Daten auch weitere relevante Faktoren wie Wetterdaten, Schul- und Semesterferien oder Großveranstaltungen mit ein. Damit das Projekt als Vorlage für möglichst viele Kommunen und Städte dienen kann, hat das Projektteam darauf geachtet, einen möglichst herstellerunabhängigen Prozess aufzubauen.
NV-ProVI wird von der Forschungsinitiative mFUND gefördert, in deren Rahmen das BMVI seit 2016 Forschungs- und Entwicklungsprojekte rund um datenbasierte digitale Anwendungen für die Mobilität 4.0 unterstützt. Neben der finanziellen Förderung bietet der mFUND auch verschiedene Veranstaltungsformate zur Vernetzung zwischen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Forschung sowie den Zugang zum Datenportal mCLOUD an. Weitere Informationen: mfund.de
In dem Projekt geht es aber nicht nur darum, die Daten zur Position und Belegung der Fahrzeuge in Echtzeit zu verarbeiten, sondern diese auch für die Kund*innen sinnvoll nutzbar zu machen. Per App auf dem Smartphone wird dann angezeigt, wie voll der Bus zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmen Haltestelle ist und ob er pünktlich kommt. Das kann Entscheidungen erleichtern; renne ich los und finde wahrscheinlich nur noch
einen Stehplatz oder gehe ich gemütlich weiter und erreiche mit dem nächsten Bus bequem sitzend mein Ziel?
„Im Falle von NV-ProVi war das Ziel, die Echtzeitdaten auf einer Livemap darzustellen – in gewissem Sinne also ein „Proof-of-Concept“, auf dem dann konkrete Anwendungsfälle realisiert werden können“, berichtet Schmid. „Hierzu zählt zum Beispiel eine dynamische Verbindungsauskunft, die nicht nur Verspätungen in Echtzeit berücksichtigt, sondern auch weniger überfüllte und gleichwertig schnelle Alternativrouten vorschlagen kann – oder auch Filter wie die Verfügbarkeit von Fahrradmitnahme und Stellflächen für Kinderwagen oder Rollstühle in Echtzeit bietet. Ebenso kann es in Zukunft möglich sein, Verstärker- oder Ersatzfahrten deutlich schneller und präziser genau dort einzusetzen, wo sie am dringendsten benötigt werden.“
Damit verbunden ist die Hoffnung, dass mehr Menschen in den ÖPNV umsteigen. Denn je mehr zuverlässige Informationen leicht zugänglich zur Hand sind, desto besser kann ich eine Route planen – was durchaus auf die Attraktivität des ÖPNV einzahlt.
Sollen mehr Menschen zum Umstieg bewegt werden, kann es sich also auszahlen, nicht nur in den Ausbau des ÖPNV, sondern auch in digitale Infrastrukturen zu investieren. „Allerdings sind für diesen Umbau auch weiterhin finanzielle Mittel notwendig, die nicht über Fahrgeldeinnahme generiert werden können“, so Jens Schmidt.
Und die Anwendungsmöglichkeiten der intelligenten Algorithmen können natürlich noch weitergedacht werden, zum Beispiel könnten diese in umfassende „Mobility-as-a-Service“-Apps integriert werden, die sämtliche öffentliche Verkehrsmittel wie Carsharing, ÖPNV und Leihfahrräder miteinander verbinden. Und vielleicht werden in Zukunft ja feste Fahrpläne und Haltestellen von einem dynamischen Einsatz von Bussen und Bahnen ersetzt, der sich an den tatsächlichen Bedarfen und Bewegungsmustern der Menschen ausrichtet.
Bewegungsdaten – ein kostbares Gut
Entscheidend dabei könnten noch andere Datenquellen werden: Bewegungsdaten. So könnten die Kameras, die bereits in vielen Fahrzeugen und Bahnhöfen aus Sicherheitsgründen installiert wurden, auch dazu genutzt werden, mithilfe moderner Bildverarbeitung Fahrgastströme zu messen, wie das zum Beispiel im Projekt Artificial Intelligence Passenger Counting (AIPaC) erprobt wird. Und im Projekt Smartphone-Sensing in Public Transport (SSTP) werten Forschende Smartphone-Daten von Probanden aus, die sie pseudonymisiert bündeln. Damit erfasst werden soll, welche Mobilitäts-Apps die Fahrgäste nutzen und inwiefern bestimmte Orte oder Uhrzeiten die Entscheidung für oder gegen die Nutzung des ÖPNV beeinflussen.
Allerdings bringt die Verfügbarmachung von Bewegungsdaten enorme Herausforderungen mit sich, da damit nicht nur die tatsächlichen Wege der Menschen abgebildet werden können, sondern sich daraus auch sehr private Informationen ablesen lassen. Der rechtlich wie ethisch erforderliche hohe Schutz der Privatsphäre von Personen verlangt daher anspruchsvolle mathematische und technische Anonymisierungsverfahren. „Wir glauben, eine höhere Akzeptanz durch Nutzende ist nur zu erreichen, wenn ein Datenmissbrauch sicher auszuschließen ist. Dafür sind neue Methoden zur Anonymisierung von Daten notwendig“, sagt Qais Kasem, der das Projekt SSTP leitet. Im Rahmen des Projekts ist geplant, die Daten mit Rauschen zu versehen und Aussagen über einzelne von Anfang an verschleiern durch unter anderem Differential Privacy Modellen. Dritte haben dabei natürlich keinen Zugang zu den Rohdaten.
Bewegungsdaten nutzen – und schützen
Auch das Projekt freemove erforscht Bewegungsdaten in der Mobilitätswende mit Fokus auf Privatsphäre-Aspekte. Projektleiter Markus Sperl berichtet in diesem Interview, warum Bewegungsdaten so interessant sind und wie sie datenschutzkonform genutzt werden können:
Auch wenn sich mit detaillierten Prognosen das Verkehrsnetz weiter optimieren lässt, reichen digitale Lösungen allein natürlich nicht für einen nahtlosen und attraktiven ÖPNV aus. Auch ein weiterer Ausbau der Infrastrukturen ist nötig, damit mehr Menschen auf Bus und Bahn umsteigen. Extra Spuren und Vorrang für Busse und Straßenbahnen sorgen zum Beispiel dafür, dass die Fahrzeuge nicht im Stau stecken bleiben. Dazu kommt eine Preispolitik, die den ÖPNV erschwinglich macht – die Bewohner*innen der Stadt Wien sind beispielsweise mit dem 365-Euro-Ticket das ganze Jahr mobil. Einige Städte gehen sogar so weit, ihren ÖPNV kostenfrei anzubieten; in Tallinn und sogar in ganz Luxemburg sind öffentliche Verkehrsmittel kostenlos.
Dieser Artikel gehört zum Dossier „Mobilitätswende – Smart in Richtung Klimaneutralität“. Das Dossier ist Teil der Projekt-Förderung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), in deren Rahmen wir vier Dossiers zum Thema „Mission Klimaneutralität – Mit digitalen Lösungen die Transformation vorantreiben“ erstellen.