Der Bürgerrat Klima hat seine Empfehlungen veröffentlicht – und fordert oberste Priorität für das 1,5 Grad-Ziel

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© Bürgerrat Klima
Vorstellung der Ergebnisse mit Adnan Arslan, Horst Köhler, Mareike Mennekenmeyer und Wolfgang Lucht (v.l.n.r.)

Für die 160 zufällig ausgewählten Menschen im Bürgerrat Klima ist klar, dass der Klimaschutz ganz oben auf jeder Agenda stehen muss. Dazu haben sie über 80 sehr konkrete Empfehlungen erarbeitet.

Autor*in Sarah-Indra Jungblut, 01.07.21

Eigentlich hat das Bundesverfassungsgericht im April mit seinem wegweisenden Klimaurteil der Bundesregierung einen eindeutigen Auftrag erteilt: Deutschland muss seinen Klimaschutz nachschärfen! Doch das vor wenigen Tagen verabschiedete Klimaschutz-Sofortprogramm letzte Woche ist wieder einmal ein zahnloser Tiger geworden – und bringt uns dem 1,5 Grad-Ziel kaum näher. Der am Bürgerrat Klima beteiligten Bürger*innen dagegen haben begriffen, was das Gebot der Stunde ist und senden ein eindeutiges Signal.

Wie kann Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Gesichtspunkte erreichen? Das war die Frage, zu der 160 zufällig ausgewählte Menschen aus ganz Deutschland vom 26. April bis 23. Juni getagt haben. Als Teil des Bürgerrats Klima haben sie über 50 Stunden diskutiert und viele Vorträge von den verschiedensten Klimaexpert*innen gehört. Letzte Woche Donnerstag wurden die Ergebnisse präsentiert – mit dem klaren Auftrag an die Politik, das 1,5 Grad Ziel konsequent weiter zu verfolgen, um „den Erhalt der Lebensgrundlagen aller Menschen sicherzustellen“.

Mit über 80 teilweise sehr konkreten Empfehlungen in den Bereichen Mobilität, Gebäude, Wärme, Ernährung und Energie zeigen sie, wie eine sozial gerechte Klimapolitik aussehen sollte. Denn, darin sind sich die beteiligten Bürger*innen einig: „Das 1,5° Ziel hat oberste Priorität. Klimaschutz ist Menschenrecht und muss ins Grundgesetz aufgenommen werden. Jedes neue Gesetz ist auf seine Klimaschutzwirkung zu überprüfen“.

Viele sehr konkrete Maßnahmen für echten Klimaschutz

In seinen Empfehlungen fordert der Bürgerrat, Klimaschutz zum Bestandteil aller Bildungsinstitutionen und Lehrplänen zu machen und so das Klimaschutzbewusstsein auszubauen, klimaneutrales Verhalten zu fördern und Beteiligungsengagement zu stärken. Außerdem solle das Wahlalter heruntergesetzt werden, damit die Klimawende wirklich generationengerecht wird: „Ein auf 16 Jahre herabgesetztes Wahlalter gibt jungen Generationen mehr Verantwortung und erhöht den Druck auf die Politik, um für nachfolgende Generationen mehr Verantwortung zu übernehmen.“

Gleichzeitig fordern die Bürger*innen, dass klimarelevantes Handeln direkte Auswirkungen für die Handelnden haben muss, wobei umweltfreundliche Alternativen durch Anreize gefördert und klimaschädigendes Handeln besteuert und sanktioniert werden sollten.

Klare Position bezieht der Bürgerrat auch zur Energiewende: „Die Geschwindigkeit der Energiewende hat Vorrang vor den Kosten, wobei der Endverbraucher finanziell am geringsten belastet werden sollte.“ Im weiteren werden auch sehr konkrete Schritte genannt, wie wir eine echte Energiewende initiieren, unter anderem dadurch, dass der Staat Vorreiter in Bereitstellung von Flächen für erneuerbare Energien wird und alle Neubauten ab 2022 mit Photovoltaik-Anlagen ausgerüstet werden müssen.

Um die Verkehrswende voranzutreiben empfiehlt der Bürgerrat, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) unverzüglich auszubauen, zu optimieren und attraktiver zu machen, unter anderem durch günstigere Tickets, und mehr öffentliche Gelder: „Die nächsten 5 Jahre sollen 70 Prozent der verfügbaren Finanzmittel für Infrastruktur in den Ausbau von Gleisen und Radverkehr anstatt in den Straßenbau fließen. Die Finanzierung des Ausbaus des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) soll durch den Bund gesichert sein. Die Kosten des Ausbaus des ÖPNV werden durch den Wegfall der Steuervergünstigungen des motorisierten Individualverkehrs (MIV), durch Einnahmen aus der CO2-Bepreisung und durch allgemeine  Steuern ermöglicht.“

Zusätzlich sollen Erstzulassung von Verbrennern spätestens bis 2030 eingestellt werden und auch dem Luftverkehr geht es an den Kragen mit den Empfehlungen, die Luftverkehrssteuer zu erhöhen, Kerosin endlich zu besteuern und Kurzstreckenflüge abzuschaffen, auch für Politiker*innen.

Bei der Gebäudewende sollte Bund, Länder und Kommunen eine Vorbildfunktion einnehmen und bis 2036 alle öffentlichen und behördlichen Gebäude klimaneutral energetisch sanieren. Zudem kommt Bund und Kommunen die Aufgabe zu, die energetische Sanierung für Wohngebäude nach einem Finanzierungsschlüssel zu fördern.

Auch die Landwirtschaft hat der Bürgerrat in den Blick genommen und fordert eine Agrarwende von der konventionellen hin zu einer klimafreundlichen Landwirtschaft. Gelingen soll dies zum Beispiel mit der Gründung einer Landwirtschaftskommission, klimafreundlichen Subventionen, der Förderung von genossenschaftlichen Landwirtschaftsmodelle anstelle von Subventionen für Großkonzerne und der Reduzierung des Nutztierbestände. Zudem sollten klimafreundliche Produkte günstiger als klimaschädliche und eine verpflichtende Klimaampel für Produkte eingeführt werden.

Große Bedeutung in der Energie- und Verkehrswende hat für den Bürgerrat die Digitalisierung, denn die digitalen Daten ermöglichen und erleichtern eine flexible und transparente Stromnutzung bzw. Mobilität sowie technische Innovationen. Gleiches gilt im Bereich der Gebäude, denn eine bundesweit standardisierte, zukunftsfähige Dateninfrastruktur sei eine Planungsgrundlage für vernetzte Betrachtungen im Bereich der Gebäudesanierung und Wärmeplanung. Daher gilt es, die damit verbundene Infrastruktur – insbesondere Glasfaserkabel und Mobilfunknetze im ländlichen Raum – voranzutreiben und weiter auszubauen.  

Ein wichtiges Instrument der Transformation ist für den Bürgerrat ein CO2-Preis: „Der CO2-Preis soll als verbindliches Instrument für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels beitragen.“ Die Berechnung des CO2-Preises, die Höhe der Einnahmen sowie deren Verwendung sollte aber transparent und nachvollziehbar für alle Bürgerinnen und Bürger erfolgen.

Bürger*innen sind bereit für echten Klimaschutz

Prof. Dr. Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung sieht in den Empfehlungen ein klares Signal an Politik und Öffentlichkeit: „Zum ersten Mal hat ein repräsentativer Bürgerrat mit wissenschaftlicher Unterstützung ein unabhängiges Votum für Maßnahmen zu mehr Klimaschutz erarbeitet. Die beschlossenen Empfehlungen zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger in erheblichem Umfang bereit sind, mehr für den Klimaschutz zu leisten, als ihnen in der politischen Diskussion oft zugetraut wird.“

Das zeigt auch die Tatsache, dass hinter den Empfehlungen immer ein Großteil der beteiligten Bürger*innen steht (nur ein Tempolimit hat nur eine knappe Mehrheit und die City-Maut für Autos keine Mehrheit erhalten).

Adnan Arslan (32 Jahre) aus Velbert in Nordrhein-Westfalen war am Anfang skeptisch. „Was sollten 160 Leute schon ausrichten können, warum sollte sich jemand für meine Meinung interessieren?“ Doch während der unzähligen Stunden gemeinsam mit den anderen Bürger*innen hat sich seine Haltung geändert. „Der Bürgerrat hat wirklich die gesamte Gesellschaft abgebildet. Ich selbst habe einen Migrationshintergrund und bin stolz, als Teil dieser Gesellschaft mitmachen und Entscheidungen hinsichtlich der Zukunft mit beeinflussen zu können. Der Politik möchten wir mit den Empfehlungen auch ein Zeichen geben, nämlich, dass wir bereit sind mitzuziehen, dass unsere Ideen, die Ideen der normalen Bürger, wertvoller seien können als man glaubt.“

Steven Ackermann (36) nimmt aus der Zeit mit, dass „es sich lohnt, Mut zur Verantwortung zu zeigen, dran zu bleiben und sich für seine Ansichten einzusetzen.“ Und er fügt hinzu, dass ein zentraler Baustein zum Erreichen des 1,5 Grad-Ziels ist, „dass alle Bürger effektiv informiert und im Prozess der Transformation zu einer klimaneutralen Gesellschaft mündig mitgenommen werden.“ Ähnlich sieht das auch Mareike Menneckemeyer (37 Jahre) aus Schwarzenbruck in Bayern: „Es geht nicht mehr darum, ob wir etwas tun, sondern darum, was wir tun und wie wir schnell am meisten erreichen – und das indem wir möglichst viele mitnehmen.“

Die Ergebnisse des Bürgerrats Klima decken sich mit den von vielen Klimaexpert*innen anerkannten Maßnahmen und sind eine ausgezeichnete Grundlage für eine echte, weitreichende Klimapolitik in Deutschland. Und die Empfehlungen zeigen nicht nur deutlich, dass viele Bürger*innen bereit sind mitzuziehen, wenn es darum geht, effektive Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen, sondern sie nennen auch wesentliche Leitsätze, wie der Weg in eine klimaneutrale Zukunft gelingen kann, nämlich mit Transparenz, Aufklärung und Partizipation.

Also, lasst uns handeln!

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