Viele europäische Länder haben in den letzten Jahren Möglichkeiten erforscht, wie große Fleischfresser wie Wölfe in Schottland oder Bären in Italien wiederangesiedelt werden können. Lange Zeit wurden diese Tiere systematisch von Menschen verfolgt und dabei in vielen Teile Europas ausgerottet. Doch mittlerweile hat man erkannt, dass auch sie eine wichtige Rolle spielen, um das Gleichgewicht der Ökosysteme wiederherzustellen. Doch die Wiederansiedlung der Raubtiere verläuft nicht immer reibungslos. Vor allem dann, wenn sich die Wege der großen Tiere mit denen ihrer menschlichen Nachbarn kreuzen, sind Konflikte und Ärger oft nicht weit.
Vor diesem Hintergrund hat sich eine Koalition aus verschiedenen Forschungsinstituten aufgemacht, nach Wegen zu suchen, wie sich Mensch und Tier nicht in die Quere kommen. Ein erster wichtiger Schritt ist dabei herausfinden, wo Bären und Co. ihr Zuhause haben und wo sie umherziehen. Dazu haben die Forschenden des Deutschen Zentrums für Integrative Biodiversitätsforschung, der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Universität Aarhus und der Universität Oxford eine neue Open-Source-Software mit dem Namen „Enerscape“ entwickelt, die neue Wege in der Überwachung von Wildtieren geht.
Algorithmus statt Sender
Um die Bewegungsmuster von Tieren zu dokumentieren, mussten bisher einzelne Tiere lokalisiert, betäubt und mit Funksendern versehen werden. Auf Basis dieser Telemetriedaten konnten die Forschenden dann Karten ihrer Wanderungen erstellen. Doch diese Art der Kartierung ist zeitaufwändig und teuer, denn die Forschenden müssen direkt mit den Tieren interagieren und Fachpersonal und Ausrüstung sind gefragt. Gleichzeitig können vollständige Karten erst dann erstellt werden, wenn das Tier die gefragten Strecken tatsächlich zurückgelegt hat, was einige Zeit in Anspruch nehmen kann.
Bei der Enerscape-Software läuft das anders. Anstatt einzelne Tiere „in echt“ zu verfolgen, berechnet sie eine Vorhersage der Route, die Tiere wie Bären wahrscheinlich nehmen werden. Grundlage der Berechnungen ist dabei die „Energie“. Jede Bewegung erfordert Energie und Tiere bevorzugen Routen, die am wenigsten von dieser kostbaren Ressource verbrauchen. Enerscape erstellt daher „Energielandschaftskarten“, die auf Basis von Faktoren wie Gewicht und Bewegungsverhalten die Energiemenge berechnen, die ein Tier benötigt, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen. Dieser Energieaufwand wird dann mit den topografischen Informationen eines Gebiets kombiniert, um Karten der wahrscheinlichen Fortbewegungsmuster zu erstellen. Dabei braucht das System nur sehr wenige Ausgangsdaten, um diese Karten zu erstellen.
Die in der Fachzeitschrift Methods of Ecology and Evolution veröffentlichten Forschungsergebnisse basieren größtenteils auf einer Studie, die in den italienischen Abruzzen durchgeführt wurde, in denen geschützte Braunbären beheimatet sind. Die Verfolgung der Bärenbewegungen im 50.000 Hektar großen Regionalpark Sirente Velino mit Hilfe der Telemetrie hat sich bisher aufgrund der Größe des Parks und des unwegsamen Geländes, das Funksignale verhindert, als sehr schwierig erwiesen. Mithilfe der Enerscape-Software könnten die Forschenden jedoch die Routen der Bären vorhersagen und Zusammenstöße mit Menschen verhindern – die für die Bären oft tödlich enden. Insbesondere wurde vorhergesagt, dass die Bären es vorziehen, Energie zu sparen, indem sie in Tälern bleiben.
Die Software wurde auf der Grundlage der weit verbreiteten Programmiersprache „R“ entwickelt, die sich durch einen leicht anpassbaren modularen Aufbau auszeichnet; der quelloffene Ansatz soll die vielfältige Nutzung des Tools ermöglichen.
„Dies ermöglicht es sowohl Forschern als auch Wildtiermanagern, die Software an eine große Vielfalt von Landschaften und Tieren anzupassen. Das bedeutet, dass die Zahl der Karten über Tierbewegungen in Landschaften in kurzer Zeit zunehmen wird. Mit deutlich mehr kartografischen Daten wird sich auch das Verständnis für die Verhaltensökologie einer Art in einem bestimmten Lebensraum grundlegend ändern. Dies wird in erster Linie dem Naturschutz und insbesondere den Maßnahmen des „rewilding“, also der Wiederansiedlung von Wildtieren, zugute kommen“, sagt Professor Fritz Vollrath vom Fachbereich Zoologie der Universität Oxford und Hauptautor der Studie.
Zurück zur Natur
In den 1960er Jahren vor allem als Theorie entwickelt, gewann das Konzept des „Rewilding“ in den 1990er Jahren an Bedeutung. Das Rewildung kann man als eher passiven Naturschutz sehen und bedeutet vor allem, dass sich Menschen aus einem Gebiet zurückziehen und so die Wiederherstellung jahrtausendealter natürlicher Prozesse ermöglichen. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass Tiere, insbesondere große Raubtiere wie Wölfe, Luchse und Bären, die durch menschliche Aktivitäten dezimiert oder sogar ausgerottet wurden, wieder zurückkehren.
Ursprünglich gejagt, um Nutztiere zu schützen, wirkt sich der Verlust der Räuber auf die gesamte biologische Vielfalt aus. Ohne die Fressfeinde könne sich deren Beutetiere ungehindert vermehren, was zur Überweidung bestimmter Gebiete und die Verbreitung von Krankheiten führt. In der Vergangenheit ist der Mensch in die Lücke gesprungen, die Wölfe und Bären hinterlassen haben. Doch es wird immer weniger gejagt – und die Populationen sind in vielen Regionen explodiert. Ein bemerkenswertes Beispiel ist der Rothirsch im schottischen Hochland, der in einigen Berichten mit einer „Plage“ verglichen wurde. Die Wiederansiedlung von Raubtieren könnte das sensible Ökosystem jedoch wieder restaurieren.
Doch vor allem Landwirt*innen befürchten, dass die Raubtiere ihr Vieh ins Visier nehmen, da die Nutztiere viel leichter zu jagen sind als Wildtiere. Und auch einige Naturschützer*innen stellen die Wiederansiedlung großer Tiere in Frage, die diese die Ökosysteme zusätzlich belasten und sich möglicherweise negativ auf andere gefährdete Arten auswirken könnten.
Ein entscheidender Faktor bei der Wiederansiedlung von Wildtieren könnte daher sein, ob es gelingt, die Begegnungen von Tieren und Menschen weitest möglich zu verhindern. Technologien wie Fernerkundung und datengestützte Karten könnten hier eine wichtige Rolle spielen und es Einheimischen und Forschenden helfen, potenzielle Konfliktgebiete zu identifizieren.
Hilfreich sind hierbei bestimmt auch Erfahrungen wie zum Beispiel aus China: In der Provinz Yunnan haben Ranger, die die Elefanten der Region schützen wollen, mit Hilfe von Sensoren und Handy-Apps ein Frühwarnsystem für die Einheimischen entwickelt, die oft dieselben Wege wie die Dickhäuter nutzen. Um Konflikte zwischen Mensch und Tier zu entschärfen geht das Projekt jedoch noch weiter. Die Landwirt*innen wurden selbst zu Rangern ernannt, die sich um die Elefanten kümmern, während die Regierung Entschädigungen für Schäden zahlt, die die Herden an ihren Ernten anrichten. Damit versuchen Regierungen und Naturschützer*innen nicht wieder dieselben negativen Beziehungen zwischen den großen Säugetieren und Menschen zu wiederholen, die einst zur Jagd auf die Tiere geführt haben.