Sie zählen Vögel, durchsuchen Satellitenbilder nach Pinguinen oder werden selbst zu mobilen Messstationen – in vielen Bereichen werden Bürgerinnen als Citizen Scientists aktiv. Dahinter steckt jedoch weit mehr als eine reine Freizeitbeschäftigung besonders Engagierter. Wenn sich die Forschung raus aus den Wissenschaftsblasen und Laboren und rein ins tägliche Leben von Bürgerinnen verlagert, kann das einiges in Bewegung setzen. Forschungsprojekte, die mehr und mehr digitale Tools einsetzen und dadurch mit immer größeren Datenmengen hantieren, bekommen Unterstützung in der Datenauswertung. Darin wiederum steckt die Chance, Forschungsvorhaben wesentlich größer aufziehen zu können und die Auswertung zu beschleunigen. Doch der Austausch ist alles andere als einseitig. Projekte, in denen Bürger*innen Sensoren in ihren Gärten, auf Fensterbänken und Balkonen installieren und Luftdaten erheben, sind ein gutes Beispiel dafür.
Tausende Freiwillige sammeln Luftdaten
Eines dieser Projekte ist „Curieuze Neuzen“. Filip Meysman, Klimaforscher an der Universität Antwerpen in Belgien, hat es ins Leben gerufen – und sammelt mittlerweile gemeinsam mit 5.000 Freiwilligen Klimadaten in der Region Flandern. Dazu stellen die Laien-Forschenden eine kleine Messbox in den Garten und erheben Daten wie Temperatur, Feuchtigkeit und Stickoxidgehalt. Diese werden dann via Internet an die Uni Antwerpen übermittelt und dort in Klimakarten zusammengefasst – die wiederum öffentlich gemacht werden.
Im Projekt „WeCount: Citizens Observing UrbaN Transport“ haben Forschende eine der bisher größten Studien über Verkehr und städtische Luftqualität in fünf europäischen Städten in Angriff genommen – und setzen dabei auch auf das Engagement von Bürgerwissenschaftlerinnen. Rund 1.500 Sensoren sollen an Hauswänden installiert werden, um die Anzahl und Geschwindigkeit von vorbeifahrenden Autos, Fahrrädern und Fußgängerinnen zu messen und besser zu verstehen. Diese Informationen werden dann direkt an die Cloud weitergeleitet, so dass Forschende und Interessierte einen aktuellen Überblick über die Verkehrsbedingungen in der Gegend erhalten. Die gesammelten Daten können dann von NGOs, Unternehmen und Privatpersonen kostenlos genutzt werden.
Feinstaub mit dem selbstgebauten Sensor messen
Stuttgart ist eines der Ballungsgebiete, in denen der Feinstaub regelmäßig Grenzwerte überschreitet. Die wenigen Messstationen der Stadt, deren Luft-Messwerte öffentlich zugänglich sind, geben nur ein sehr grobmaschiges Bild der Situation. Hotspots und Interventionsmöglichkeiten lassen sich daraus nur schwer ablesen. Das OK Lab Stuttgart, das Teil des Programms Code for Germany der Open Knowledge Foundation Germany ist, hat das Citizen-Science-Projekt luftdaten.info ins Leben gerufen, um mehr Datenpunkte zu schaffen und die Daten für Bürger*innen und Zivilgesellschaft transparenter zu machen.
Das Projekt ist in den letzten Jahren zu einem von Mitwirkenden betriebenen globalen Sensornetzwerk geworden, das Open-Data-Umweltdaten generiert und mittlerweile sensor.community heisst. Auf der Website des Projekts wird Schritt für Schritt erklärt, wie man selbst einen Feinstaub- oder Lärmsensor bauen und an der Hauswand installieren kann. Außerdem bieten viele der mittlerweile 57 Community Labs regelmäßig den Sensorbau unter fachkundiger Anleitung an. Nach eigen Angaben sind aktuell mehrals 13.000 Sensoren aktiv. Aus den übermittelten Messwerten der selbstgebauten Sensoren entsteht dann eine sich kontinuierlich aktualisierende Feinstaub-Karte. Die meisten Messgeräte finden sich aktuell vor allem an deutschen, niederländischen und belgischen Balkonen und Hauswänden – aber auch von jedem anderen Ort weltweit ist es möglich, in die Luftmessung einzusteigen.
Allerdings sind die gewonnenen Daten bisher nur technisch Eingeweihten wirklich zugänglich. Um das zu ändern, soll demnächst die Software-Seite von luftdaten.info gestärkt und ein neuer, explizit für Nicht-Techniker*innen verständlicher Zugang per App entstehen.
Mit einem selbstgebauten Sensor lässt es sich relativ günstig an der Erhebung von Luftdaten beteiligen, allerdings ist dafür ein wenig Technik-Affinität gefragt. Natürlich gibt es auch schon fertige Sensoren zu kaufen, wie zum Beispiel von Pocket Lab. Diese sind allerdings nicht ganz günstig; das Angebot richtet sich damit vor allem an Schulen und Hochschulen.
Erhebung der Luftdaten regt die Klimadebatte an
Egal, ob sich Bürgerinnen selbst einen Sensor bauen oder im Rahmen größerer Forschungsprojekte die Hardware gestellt bekommen – die an den Projekten beteiligten Bürgerinnen erfahren unmittelbar, welche Schadstoffe sie mit der Luft einatmen. Und sie sorgen mit der Datenerhebung für ein vollständigeres und transparenteres Bild der Luft in unseren Städten – womit die Hoffnung verbunden ist, dass die Ergebnisse der Sensoren Initiativen für saubere Luft in städtischen Gebieten fördern.
In Antwerpen haben die neu gewonnen Daten auf jeden Fall schon eine Klimadebatte angeregt, wie Jan Corens, einer der Projektbeteiligten, berichtet. Plötzlich stelle man sich Fragen, warum die Luft in der Straße um die Ecke besser sei als bei einem selbst, sagt Corens. In Antwerpen hat sich daraufhin ein Streit über Fahrverbote entfacht.
Über die Bürgerbeteiligungsinstrumente entstehen neue Netzwerke, die die Bürger*innen zu Mitwirkenden an der Forschung, an der Problemerkennung, aber auch am Finden von Lösungen macht. „Wissenschaft wirkt oft elitär: Der renommierte Professor sagt, was wir denken oder tun sollen. Bürgerwissenschaft wirkt demokratisierend, weil jeder mitmachen kann“, sagt Filip Meysman.
Von Daten zur Bewegung
Bewegung beim Thema Luftverschmutzung ist auf jeden Fall dringend nötig. Laut WHO lassen sich jährlich 4,2 Millionen Todesfälle auf Schadstoffe in der Luft zurückführen. Denn die kleinen Partikeln in der Luft mit einem Durchmesser von 2,5 Mikrometer oder weniger (PM2,5) können Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen sowie Krebs verursachen. Dazu kommt, Dieselruß-Emissionen den Klimawandel beschleunigen. Die Luftströmungen der Nordhalbkugel tragen die Emissionen in die Arktis und auf die Gletscher der Hochgebirge und beschleunigen dort die Eisschmelze.
Auch wenn das Umweltbundesamt seit 2008 Feinstaub mit der Partikelgröße PM2,5 in Deutschland regelmäßig misst, sind die Messungen auf wenige Messstationen begrenzt. Dabei liegt der Fokus besonders auf Ballungsräumen, also Gebieten mit viel Verkehr oder Industrie. Aus den neuen Messpunkten, die im Rahmen der verschiedenen Projekte und mit privaten Sensoren entstehen, werden immer detaillierte Karten, die öffentlich zugänglich sind. Und die Bereitschaft der Bürger*innen, sich an der Erhebung von Luftdaten zu beteiligen, scheint groß zu sein.
Wie aber entsteht ein breiter Dialog über die Messwerte, wie wird ein politischer Diskurs angestoßen – und vor allem: wie werden daraus politische Forderungen und Handlungen für eine bessere Luft? „Daten und Visualisierungen sind immer dann wirklich effektiv, wenn sie zum Mittel werden und dazu muss man ganz aktiv in die Kampagnenarbeit gehen. Ich glaube, im Umwelt- und Klimaschutz muss das dann nicht unbedingt das Projekt selbst machen, sondern da muss der Brückenschlag gesucht werden, zu Institutionen und größeren Organisationen. Fridays for Future könnte zum Beispiel so eine Organisation sein, die dann in ihrer Strategie öffentlichen Druck aufbaut“, sagt Daniel Staemmler, der an der Humboldt-Universität in Berlin zu digitalem Aktivismus forscht, gegenüber RESET.
Um das Thema also wirklich groß zu machen, fehlt nur noch eine breit aufgestellte Kampagne, die mit politischen Forderungen auf Veränderungen drängt. Auch weitere Fördermögichkeiten könnten helfen, dass Projekte sich von Anfang an besser in ihren jeweiligen Ökosystemes vernetzen und Nutzerinnen und Entscheidungsträgerinnen direkt einbezogen werden.
Zudem ist das Recht auf saubere Luft einklagbar – und auch hier ist die feinmaschige Erhebung der Luftqualität eine wichtige Grundlage. Sobald die Grenzwerte für Luftschadstoffe überschritten werden, können Bürgerinnen eine Klage einreichen, denn die Mitgliedstaaten der EU sind gesetzlich verpflichtet, Maßnahmen zur Senkung der Luftschadstoffe festzulegen, um die Luftqualität zu verbessern. Klagen können alle, die sich überwiegend in belasteter Umgebung aufhalten – also Anwohnerinnen genauso wie Arztpraxen oder Kitas an stark befahrenen Straßen. Auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) darf als Umweltverband Klagen einreichen und setzt mittlerweile in 39 Städten auf den Rechtsweg, um eine bessere Umsetzung der EU-Luftreinhaltegesetzgebung und effektive Maßnahmen einzufordern.
Der Artikel ist Teil des Dosssiers „Civic Tech – Wege aus der Klimakrise mit bürgerschaftlichem Engagement 4.0“. Alle Artikel des Dossiers findest du hier: Dossier Civic Tech
Das Dossier ist Teil der Projekt-Förderung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), in deren Rahmen wir vier Dossiers über zwei Jahre zum Thema „Chancen und Potenziale der Digitalisierung für eine nachhaltige Entwicklung“ erstellen.
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