„Wir kämpfen nicht nur um unsere Zukunft, sondern auch um das Heute.“ Interview mit der philippinischen Aktivistin Mitzi Tan

Klimaakivist*in auf den Philippinen zu sein, ist gefährlich. Aber das hält viele junge Menschen des Landes nicht davon ab, auf der Straße und online für ein schnelles Handeln gegen den Klimawandel einzutreten. Wir sprachen mit Mitzi Jonelle Tan, Mitgründerin einer Jugend-Klima-Gruppe in Manila.

Autor Jan Wisniewski:

Übersetzung Jan Wisniewski, 06.08.20

Gerade Menschen im globalen Süden sind am stärksten von den menschengemachten Klimaveränderungen betroffen. Und sie sind genauso auch Aktivist*innen, Pädagog*innen und Entscheidungsträger*innen für den Wandel. Sie engagieren sich für eine bessere Welt, sie sind innovativ und inspirieren andere, die Probleme anzugehen, mit denen wir als Menschheit konfrontiert sind. Doch in den Medien fehlt es oft an Vielfalt, wenn es um ihre Stimmen und Erfahrungen geht. In dieser Interview-Reihe mit Umwelt- und Klima-Aktivist*innen aus Lateinamerika, Afrika und Asien wollen wir dazu beitragen, dieses Ungleichgewicht zu beheben und unterrepräsentierten Stimmen innerhalb der Klimabewegung Gehör verschaffen.

Im jüngsten Global Witness-Report heißt es, dass die Philippinen das zweitgefährlichste Land für Umweltaktivist*innen sind. 2018 war es sogar an erster Stelle. Die philippinische Präsidentin hat dieses Jahr ein neues Anti-Terror-Gesetz verabschiedet, das Klimaaktivist*innen zunehmend bedroht, da sie als Terroristen eingestuft und sogar ohne Haftbefehl oder Anklage für bis zu 24 Tage ins Gefängnis gebracht werden können. Aber wie wir in diesem Interview erfahren haben, sind die Philippinen auch ein Land, in dem kollektive Aktionen in der Vergangenheit zu großen Erfolgen der Umweltbewegung geführt haben – und die Aktionen der Zivilgesellschaft zeigen weiterhin Leidenschaft und Hoffnung.

Im vierten Interview unserer Reihe „Stimmen der Klimagerechtigkeit“ sprachen wir mit Mitzi Jonelle Tan, Mitbegründerin von Youth Advocates for Climate Action Philippines, wie es ist, in einer Zeit Aktivistin auf den Philippinen zu sein, in der die Situation gleichzeitig inspirierend und zutiefst unsicher zu sein scheint. Wir diskutierten über die Kreativität, die aus ihren jüngsten Online-Protesten entstanden ist, über die Notwendigkeit, dass Unternehmen und Länder im globalen Norden ihre Verantwortung anerkennen, und über ihre Hoffnung, dass wir nach Covid-19 eine nachhaltigere Gesellschaft aufbauen.

Ist der Klimawandel etwas, das du bemerkst und das die Menschen auf den Philippinen direkt betrifft? Wie bist du zum ersten Mal auf das Thema aufmerksam geworden?

Es ist definitiv etwas, das die Menschen auf den Philippinen direkt betrifft, insbesondere unsere Bauern und die Fischergemeinde. Sie sind diejenigen, die es am eigenen Leib erfahren – die Natur ist ihre Lebensgrundlage. Sie sind auch anfälliger für die Klimakrise, da sie zu den ärmsten Schichten unserer Gesellschaft gehören. Ich habe zum ersten Mal in der Schule von der Klimakrise erfahren, als sie in einer Unterrichtsstunde erwähnt wurde, aber ich habe erst richtig verstanden, wie ernst das Thema ist, als die Philippinen ungewöhnliche Taifune und Überschwemmungen erlebten, die das Leben vieler Menschen beeinträchtigten.

Durch eine der Organisationen, für die ich arbeite, Agham Youth („agham“ bedeutet „Wissenschaft“ auf philippinisch), die sich dafür einsetzt, dass Wissenschaft und Technologie im Dienste der Menschen eingesetzt werden, konnte ich unseren indigenen Völkern zuhören und mit ihnen sprechen. Diese Gespräche und meine Verbindungen zur Agham-Jugend haben mir wirklich die Augen für die Probleme geöffnet, mit denen unser Land konfrontiert ist, darunter eben auch die Klimakrise.

Erzähl uns von der Organisation, die du leitest, Youth Advocates for Climate Action (YACAP). Sie bezeichnet sich selbst als das „Fridays for Future der Philippinen“. Habt ihr auch studentische Klimastreiks organisiert?

Ich habe bereits 2017 angefangen, mit der Jugend von Agham und anderen für die Umwelt zu protestieren. Im Jahr 2019 gründeten wir zusammen mit Saribuhay – einer Jugendumweltorganisation, die sich an der University of the Philippines für die Umwelt einsetzt – ein Bündnis von Einzelpersonen, Jugendorganisationen und Studentenräten mit dem Namen Youth Advocates for Climate Action Philippines (YACAP). YACAP begann 2019 mit der Organisation von Klimastreiks, angeleitet von Jugendlichen.

Deine Organisationen und du, ihr seid sehr aktiv in den sozialen Medien. Spielen digitale und soziale Medien eine große Rolle in deiner Arbeit als Aktivistin?

Soziale und digitale Medien haben mir geholfen, mehr über das Geschehen zu verstehen und das Bewusstsein zu schärfen. Ich denke, dass wir wie die meisten Studentenaktivist*innen zuerst damit begannen, einfach nur zu schimpfen und online unglücklich zu sein, und dann fanden wir andere Leute, die ebenfalls unzufrieden waren, und das entwickelte sich zu einer Möglichkeit, mehr zu lernen und schließlich auch andere zu sensibilisieren. Es ist wichtig, sich jetzt daran zu erinnern, dass soziale Medien begrenzt sind in ihrer Wirkung. Sobald es die Situation erlaubt, müssen wir Online-Aktivismus mit kollektiven Aktionen auf der Straße kombinieren.

COVID-19 führte zu einem Lock-down auf den Philippinen, daher mussten wir unsere Proteste online verlagern und uns kreativere Wege überlegen, um Klimagerechtigkeit einzufordern. Wir konnten in den letzten Wochen viele Jugendliche online für unsere Kampagnen gewinnen, aber es war eine Herausforderung, da es schwierig ist, neue Menschen nur online zu erreichen. Um mehr Menschen auf uns aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass die Jugend weiterhin Klimagerechtigkeit einfordern muss, haben wir ein Lied und einen Tanz auf TikTok gemacht.

Was können wir deiner Meinung nach aus der COVID-Krise lernen und welche positiven Auswirkungen erhoffst du dir davon?

Das Positive, das ich an COVID-19 sehe, ist, dass wir, seit wir nicht mehr auf der Straße sein können, gezwungenermaßen im Internet immer kreativere Wege gefunden haben, um mehr Menschen zu erreichen und uns international zu vernetzen – das sind Verbindungen und Beziehungen, die wir aufrechterhalten müssen, um dieses globale Problem anzugehen. Wir haben jetzt auch die Gelegenheit, unsere Wirtschaft neu zu bewerten und sicherzustellen, dass wir uns beim Wiederaufbau auf eine nachhaltige Gesellschaft zurückbesinnen.

Youth Advocates for Climate Action Philippines.

Die Proteste scheinen viel Aufmerksamkeit zu erhalten – aber das schlägt sich nicht in großen Aktionismus seitens der Entscheidungsträger*innen nieder. Warum ist das deiner Meinung nach so?

Nun, im Moment ist das angesichts der aktuellen Situation der öffentlichen Gesundheit teilweise verständlich. Im Allgemeinen wächst die von Jugendlichen geführte philippinische Klimabewegung immer noch, und um mehr Aktionen seitens der Entscheidungsträger zu sehen, brauchen wir mehr Menschen, die auf der Straße Veränderungen fordern; nicht nur aus dem Jugendbereich, sondern aus allen Bereichen der Gesellschaft. Wir wissen, dass diese Massenproteste wirksam sind, weil wir auf den Philippinen in der Vergangenheit gesehen haben, wie kollektive Aktionen zum Schutz der Umwelt beitragen können – wie zum Beispiel die Blockade in Nueva Vizcaya, die seit 2019 den Betrieb von OceanaGold stoppt, einem ausländischen Bergbauunternehmen, das seit Jahren die philippinische Umwelt zerstört. Auf globaler Ebene glaube ich, dass wir im Moment nur im globalen Norden eine große Zahl von Menschen haben, die in der Lage sind, Druck auf die Regierungen auszuüben, und es ist wichtig, dass die Bewegungen im globalen Norden die Bewegungen im globalen Süden unterstützen, damit auch sie wachsen können. Wir werden die Jugend der ganzen Welt brauchen, um den generationenübergreifenden und multisektoralen Kampf gegen die Klimakrise und das System, das sie verursacht, zu führen. Wir brauchen die Einheit aller, um die Veränderungen, die wir in der Politik widerspiegeln wollen, zu erreichen.

Was sind die Schlüsselbotschaften hinter deinem Protest?

Das erste, was wir fordern, ist Klimagerechtigkeit – jetzt! Die Philippinen sind eines der am stärksten von der Klimakrise betroffenen Länder, obwohl unsere eigenen Kohlendioxidemissionen so minimal sind – und das gilt auch für viele andere Länder. Klimagerechtigkeit bedeutet, dass multinationale Unternehmen und Länder des globalen Nordens ihre historische Verantwortung anerkennen und ihre Kohlendioxidemissionen drastisch reduzieren – als jene Menschen, die am meisten zur Klimakrise beigetragen haben. Auf diese Weise haben weniger entwickelte Länder die Chance, sich zu entwickeln und schließlich ihren gerechten Übergang zu erneuerbaren Energiequellen zu beginnen.

Ein weiterer Aufruf, der sich an unsere lokalen Führer*innen richtet, ist, alle neuen Kohlekraftwerksprojekte zu stoppen und die Bergbauzulassungen der ausländischen Bergbauindustrien nicht zu erneuern, die erwiesenermaßen unsere Umwelt und die Lebensgrundlage unseres Volkes zerstören.

Eine unserer laufenden Kampagnen ist jetzt der Aufruf zur Abschaffung des neuen „Terrorgesetzes“ des Landes. Dieses Terrorgesetz bzw. das Anti-Terrorismusgesetz von 2020 trat offiziell am 18. Juli letzten Jahres in Kraft. Seine weite Definition von Terrorismus macht es anfällig für Missbrauch. Es droht, alle Arten von Aktivist*innen, einschließlich Klimaaktivist*innen, als Terroristen zu brandmarken, aber in Wirklichkeit sind die Menschen, die am meisten in Gefahr sind, auch diejenigen, die am anfälligsten für die Klimakrise sind – die marginalisierten Gemeinschaften, die für ihre Rechte kämpfen. Die Philippinen sind laut dem jüngsten Global Witness-Report bereits eines der gefährlichsten Länder der Welt für Umweltschützende, und schon vor diesem Gesetz wurden sie als Terroristen gebrandmarkt, weil sie um die Wälder, das Land und die Meere kämpfen. Sie wurden bereits vertrieben, schikaniert und ermordet, und dieses Gesetz wird die Dinge nur noch schlimmer machen. Die philippinische Regierung ignoriert weiterhin die weltweiten Bitten. Umweltaktivist*innen aus der ganzen Welt, darunter auch Greta Thunberg und Naomi Klein, haben sich bereits gegen das Gesetz ausgesprochen, indem sie unsere globale Petition unterzeichnet und unterstützt haben. Die Philippinen brauchen die Hilfe der ganzen Welt. Als wir 1986 einen Diktator hatten, waren es die mächtigen Proteste der Filipinos gepaart mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, die den Sturz unseres Diktators herbeiführten, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Geschichte wiederholt.

Was erhoffst du dir vom Globalen Streik für das Klima?

Wir brauchen Klimagerechtigkeit, und das bedeutet auch Gerechtigkeit für unsere Umweltschützer*innen, die immer an vorderster Front in diesem Kampf standen, aber immer schikaniert und deren Rechte verletzt wurden. Das Problem, das wir haben, ist ein systemisches Problem, also brauchen wir auch eine systemische Lösung. Wir können nicht mit dem gierigen, verschwenderischen, profitorientierten System weitermachen, das wir heute haben. Wir brauchen ein System, das bedarfsgerecht, nachhaltig, menschen- und umweltbewusst ist. Wenn wir für Klimagerechtigkeit kämpfen, bedeutet das auch soziale Gerechtigkeit. Der weltweite Streik für das Klima ist also auch der weltweite Streik für die wirkliche Freiheit aller Menschen.

Gibt es sonst noch etwas, was du unseren Leser*innen mitteilen möchtest?

Die Klimakrise wird nicht verschwinden. Wir müssen uns dem Aufruf zur Rettung der Erde anschließen, und die Jugend aus aller Welt muss immer daran denken, die Rufe der marginalisierten Teile der Gesellschaft zu verstärken. Wir brauchen kollektives Handeln. Im Moment können wir nicht auf der Straße sein, aber wir müssen uns weiter dafür einsetzen, dass wir nach den Pandemie-Maßnahmen nicht wieder zur Normalität zurückkehren – denn die Normalität war bereits eine Krise. Wir müssen Wege finden, um weiter zu kämpfen, denn die Ungerechtigkeit und die Missbräuche haben während dieser Pandemie angehalten. Wir müssen die Straßen stürmen und jetzt Klimagerechtigkeit und radikale Klimaschutzmaßnahmen fordern, denn die Zeit drängt, und die Menschen leiden jeden Tag. Es geht nicht einmal mehr darum, für unsere Zukunft zu kämpfen, es geht darum, für das Heute zu kämpfen.

Youth Advocates for Climate Action Philippines findest du auf Facebook und Twitter und indem du den Hashtags #digitalstrikeph und #yacaphilippines folgst. Agham Youth hat auch eine Facebook-Seite, auf der sie über über ihre Mission berichten, Wissenschaft und Technologie für das Gute einzusetzen. Mehr über das neue philippinische Anti-Terror-Gesetz findest du unter dem Hashtag #JunkTerrorLaw und hier kannst du die Online-Petition dagegen unterzeichnen.

Das Interview erschien zuerst auf unserer englischen Seite, ins Deutsche übersetzt wurde es von Sarah-Indra Jungblut.

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