„Wir alle sind Teil des Problems, aber auch Teil der Lösung.“ Interview mit der Aktivistin Lynn Ocharoenchai

Klimawandel, ungleiche Machtverhältnisse und soziale Ungleichheit sind eng miteinander verknüpft. Die Aktivistin Nanticha "Lynn" Ocharoenchai aus Thailand möchte mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf den Umweltschutz lenken und fordert soziale Gerechtigkeit in einem Land, das zunehmend vom Klimawandel betroffen ist.

Autor Jan Wisniewski:

Übersetzung Jan Wisniewski, 23.07.20

Gerade Menschen im globalen Süden sind am stärksten von den menschengemachten Klimaveränderungen betroffen. Und sie sind genauso auch Aktivist*innen, Pädagog*innen und Entscheidungsträger*innen für den Wandel. Sie engagieren sich für eine bessere Welt, sie sind innovativ und inspirieren andere, die Probleme anzugehen, mit denen wir als Menschheit konfrontiert sind. Doch in den Medien fehlt es oft an Vielfalt, wenn es um ihre Stimmen und Erfahrungen geht. In dieser Interview-Reihe mit Umwelt- und Klima-Aktivist*innen aus Lateinamerika, Afrika und Asien wollen wir dazu beitragen, dieses Ungleichgewicht zu beheben und unterrepräsentierten Stimmen innerhalb der Klimabewegung Gehör verschaffen.

Der Global Climate Risk-Index 2017 stufte Thailand in die Top 10 der Länder ein, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Die Hauptstadt Bangkok, die auf den Überschwemmungsgebieten des Flusses Chao Phraya errichtet wurde, wird in Zukunft extreme Regenfällen und steigende Wasserstände extrem zu spüren bekommen. Und da die Temperaturen jedes Jahr weiter ansteigen, steht das Überleben der thailändischen Hauptstadt auf dem Spiel.

Im dritten Interview unserer Reihe „Stimmen der Klimagerechtigkeit“ sprachen wir mit Nanticha „Lynn“ Ocharoenchai, Gründerin von Climate Strike Thailand, einer Bewegung, die von Greta Thunbergs Schulstreiks „Fridays for Future“ inspiriert ist. Sie will die thailändische Öffentlichkeit für die Gefahren des Klimawandels sensibilisieren, die Machthabenden zum Handeln auffordern, aber auch Verhaltensänderungen in der Gesellschaft anregen und fördern.

Lynn, wann hast du dich zum ersten Mal für das Thema Klimawandel interessiert? Und wann hast du mit den Streiks begonnen?

Ich glaube, ich habe davon in den Umweltwissenschaften in der Schule und durch die Nachrichten erfahren und mich im Laufe der Jahre nach und nach darüber informiert. Ich glaube nicht, dass ich so viel über die spezifischen Auswirkungen in Thailand bemerkt habe, bis ich anfing, mich an den Klimastreiks zu beteiligen und begann, das Thema für mich selbst eingehender zu untersuchen.

Den ersten Streik organisierte ich im März 2019, nachdem ich einen Artikel über das Leben von Greta Thunberg gelesen hatte. Ich las darüber, wie sie depressiv wurde, aber trotzdem weiter kämpfte, und ich hatte das Gefühl, dass ich mich wirklich damit identifizieren konnte. Das hat mich angestachelt, und ich habe noch am selben Tag spontan einen Klimastreik online organisiert. Irgendwann wuchs die Bewegung und seitdem hat sie immer mehr Aufmerksamkeit erhalten.

Dein allererster Klimastreik war also online? Wie haben die digitalen Medien deinen Weg als Aktivistin sonst noch geprägt?

Als ich das erste Mal streikte, konnte ich die Menschen mobilisieren, indem ich eine Facebook-Veranstaltung ins Leben rief. Nur durch die sozialen Medien war es mir möglich, meine Gruppe zu halten und ein Publikum zu gewinnen, und damit auch die Bewegung selbst. Im Internet und in den sozialen Medien teile ich Nachrichten, Updates und Ankündigungen. Es ist das, was ich nutze, um mich mit den anderen Aktivist*innen zu verbinden und mich mit anderen Umweltschützer*innen zu vernetzen. Mein Hauptaugenmerk liegt auf der Bewusstseinsbildung und nicht auf der Arbeit an vorderster Front – und ich habe großen Respekt vor den Aktivisten, die das tun – und vieles davon ist nur dank der digitalen Medien möglich.

Deine Bewegung in Thailand ist gewachsen, und mit ihr der Umweltaktivismus in der ganzen Welt. Aber während die Proteste zugenommen haben, gab es nur sehr wenig Aktionismus bei den Menschen an der Macht. Was denkst du darüber?

Ich denke, dass der Klimawandel, wie viele andere anhaltende soziale Probleme, schwer zu lösen ist, vor allem deshalb, weil er so viel Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ländern und Sektoren erfordert. Und natürlich sind Verhandlungen extrem schwierig, wenn jeder nur seine eigenen Interessen im Auge hat und niemand bereit ist, zurückzustecken. Ich glaube, der Klimawandel erfordert – mehr als viele andere Themen – von allen gleichzeitig Maßnahmen, da sonst nur sehr geringe Fortschritte erzielt werden können. Und da keiner der großen Akteure bereit ist, den ersten Schritt zu tun, verlieren die kleinen Veränderer die Hoffnung und den Schwung, und immer mehr Umweltverschmutzer finden es in Ordnung, mit dem, was sie tun, davonzukommen, und sie werden nicht für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen. Diejenigen, die Veränderungen wollen, haben sehr wenig Macht, um das System effektiv und schnell zu revolutionieren, und diejenigen, die diese Macht haben, entscheiden sich einfach, es nicht zu tun.

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Wie hat das Coronavirus die Situation für dich in Thailand beeinflusst?

Das Coronavirus hat den Klimastreiks die gesamte Aufmerksamkeit der Medien entzogen. Die Panikwelle um diese neue und unmittelbare Bedrohung hat die Menschen auch von der Bedrohung durch den Klimawandel abgelenkt, obwohl die Pandemie in direktem Zusammenhang mit der Naturzerstörung und dem Wildtierhandel steht – dem Eingriff des Menschen in die Natur.

Solche Dinge passieren, wenn wir weiterhin die Natur zerstören.

Aber wenn man die Anstrengungen betrachtet, die unternommen wurden, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern – wobei klar ist, dass einige Länder effektiver waren als andere – ist es erstaunlich, wie gut Menschen als Reaktion auf eine Krise unmittelbar kooperieren können. Wir haben gesehen, wie Regierungen aktiv wurden, um in kurzer Zeit Ressourcen zu mobilisieren und strenge Gesetze durchzusetzen. Aufgrund dieser plötzlichen Unterbrechung beginnen Regierungen und Medien sich endlich damit zu befassen, wie die Entwaldung und der Handel mit Wildtieren mit dem Ausbruch zusammenhängen.

Es gab noch nie eine bessere Gelegenheit, sowohl die ökologischen als auch die sozialen Probleme des Landes hervorzuheben. Als die Straßen Bangkoks (etwas) autofreier wurden, ging die Luftverschmutzung drastisch zurück. Das ist nur ein Beispiel, das gezeigt hat, dass wir nicht nur in der Lage sind, unsere Abhängigkeit von Personenkraftwagen zu verringern, falls wir uns dazu entschließen sollten, sondern dass wir dies auch für die Gesundheit der in den Städten lebenden Menschen und für die Umwelt tun müssen. Jetzt gibt es endlich Raum für die Förderung integrativerer Fußgängerzonen und gemeinsamer Verkehrsmittel, die sowohl die Verkehrsüberlastung verringern als auch den Lebensstandard verbessern werden.

Was jetzt gerade passiert, ist eine Erinnerung daran, dass wir Menschen uns selbst Probleme verursachen, indem wir mit der Natur spielen, aber auch daran, dass wir, wenn wir zusammenkommen und zusammenarbeiten, den Einfallsreichtum haben, eine Krise umzukehren.

Was sind die Schlüsselbotschaften hinter deinem eigenen Protest?

Wir fordern Klimagerechtigkeit, was nicht nur bedeutet, dass wir uns mit der Umweltzerstörung auseinandersetzen müssen, die zum Klimawandel beiträgt, sondern auch mit Fragen in unseren gesellschaftlichen Strukturen, die die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen vorantreiben. Wir wollen Veränderungen in der Art und Weise, wie unsere Industrien und Städte funktionieren, aber in einer Weise, die allen Menschen, die in den betroffenen Gemeinschaften leben, gerecht wird.

Gegenwärtig sind diejenigen, die die Umwelt am meisten verschmutzen, am wenigsten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen, während die geringsten Verschmutzer dafür am anfälligsten sind. Wir brauchen Regierungen, die das anerkennen, Unternehmen, die ihre Praktiken ändern, und die Öffentlichkeit, die diese Änderung von ihnen verlangt.

Wir können Umweltprobleme nicht lösen, ohne ihre Grundursache anzugehen, die oft auf soziale Ungleichheiten wie Armut und Einkommensunterschiede, den Missbrauch der Rechte von Indigenen oder Frauen, mangelnde Bildung und vielem mehr zurückzuführen ist. Nur wenn wir das Wohlergehen der Menschen gewährleisten können, können wir sicherstellen, dass die Menschen das Wohlergehen der Natur schützen wollen.

© Ein Bild von Lynns erstem Klimastreik im März 2019 in Bangkok.

Was erhoffst du dir von den Klimastreiks?

Ich hoffe, dass der globale Klimastreik genug Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht, sei es durch zivilen Ungehorsam, Medienpräsenz, Bildung oder etwas anderes, das allen die Dringlichkeit unserer Klimakrise bewusst macht. Ich hoffe, dass unser Zusammenkommen zeigt, wie ernst dieses Thema für unsere gesamte menschliche Zivilisation ist, genug, um wichtiger zu sein als jedes politische Drama, die Börse oder Prominentenklatsch. Es geht um unser Überleben und unsere Zukunft, und ich hoffe, dass jeder Mensch das begreift, bevor es zu spät ist – was es ja fast schon ist.

Gibt es noch etwas, was du unseren Leser*innen mitteilen möchtest?

Jeder Mensch, unabhängig von seinem Beruf oder seiner Branche, ist ein Teil des Problems, aber er kann auch Teil der Lösung sein. Wir müssen kreativ werden, wie wir zur Lösung des Problems beitragen wollen, anstatt uns nur darüber zu beschweren. Wir können nicht darauf warten, dass Regierungen und Unternehmen handeln, denn oft warten sie darauf, dass wir das Gleiche tun.

Während Klimastreiks die Notwendigkeit betonen, dass Regierungen und Unternehmen sich ändern müssen, ist es ebenso unsere Schuld und Verantwortung wie die der Verbraucher, keine Nachfrage nach genau den Dingen zu schaffen, gegen die wir protestieren. Es ist beschämend zu sehen, wie Klimastreikende, die sich immer noch an Grillbuffets erfreuen und überall hinfliegen, die Notwendigkeit eines Systemwandels als einen Weg nutzen, um mit ihren individuellen Gewohnheiten davonzukommen. Auch wenn es sich nur um einen winzigen, als unbedeutend empfundenen Wandel handelt, sollten wir zumindest unser Bestes geben, um anderen Menschen zu zeigen, dass es möglich ist, nachhaltig zu leben, wenn wir uns genügend anstrengen.

Und schließlich glaube ich, dass all dieses große Durcheinander seine Wurzeln in unserem abnehmenden Einfühlungsvermögen hat. So einfach es auch klingen mag, ich denke, wenn wir uns gegenseitig so behandeln würden, wie wir behandelt werden wollen, wenn wir etwas weniger egoistisch wären und unsere gemeinsamen Ressourcen mit Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Menschen behandeln würden, wäre es wahrscheinlich viel einfacher, eine Gesellschaft zu schaffen, die das Beste für das Wohlergehen aller, für das Zuhause und die Natur will.

Über Facebook, Twitter und Instagram kannst du dich den Tausenden von Followern von Climate Strike Thailand anschließen. Neben ihrem Aktivismus ist Lynn auch als Umweltautorin, Geschichtenerzählerin und Kommunikationsberaterin für den WWF tätig. Mehr über ihre Arbeit findest du bei Medium.


Dieser Artikel ist eine Übersetzung von Sarah-Indra Jungblut. Das Original erschien zuerst auf unserer englischsprachigen Webseite.

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