Interview: Ein Wald, der sich selbst abholzt? Mit der Blockchain könnten Ökosysteme autonom werden

Können sich natürliche Systeme mit Hilfe der Blockchain selbst verwalten? Diese Frage untersucht ein Team von Entwicklern, Theoretikern und Forschern. Wir haben mit Paul Seidler, einem der Köpfe, gesprochen.

Autor*in Lydia Skrabania, 16.08.18

Übersetzung Lydia Skrabania:

Ein Wald, der sich mit Hilfe von verteilten Systemen selbst verwaltet, Bäume fällt und das Holz anschließend verkauft? Diese Frage untersucht das vom BMBF geförderte interdisziplinäre Projekt terra1. Koordiniert wird das Forschungsprojekt vom Forschungszentrum Informatik (FZI), beteiligt sind außerdem die Universität der Künste in Berlin (UdK), das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie als Forschungspartner sowie inter3 (Institut für Ressourcenmanagement) und das Unternehmen Zebralog.

Terra1 entstand aus dem UdK-Projekt terra0, das von Paul Seidler, Paul Kolling und Max Hampshire ins Leben gerufen wurde. Die drei bringen Expertise aus verschiedenen Bereichen in ihr Projekt ein – Grafikdesign, Informatik, Handwerk, Medienkunst, Philosophie. Mit ins Boot holen sie sich auch immer externe Leute mit dem jeweils notwendigen Know-how, zum Beispiel zu Nachhaltigkeit und Entwicklungspolitik. Derzeit untersuchen die drei Entwickler in einem experimentellen Projekt die Tokenisierung und Verifizierung von natürlichen Rohstoffen.

Wir haben mit Paul Seidler über seine Forschungsprojekte gesprochen, darüber, welches Potenzial die Blockchain für die nachhaltige Entwicklung hat – und warum sie keine Blaupause zur Lösung gesellschaftlicher Probleme sein kann.

Paul, euer Forschungsprojekt trägt den knackigen Titel „Bioökonomie 4.0 – Wie kann sich Wald selbst verwalten?“. Was genau erforscht ihr da?

Wir haben uns ursprünglich mit Bitcoin und Blockchain befasst und in dem Zusammenhang hat uns die Entwicklung rund um Smart Contracts sehr interessiert. Wir wollten wissen, wie verteilte Systeme autonom agierende Programme ermöglichen und haben angefangen, in diesem Kontext über Verwaltungssysteme für natürliche Ressourcen nachzudenken. Denn da sehen wir einen Bedarf. Wir untersuchen in unserem Projekt die Frage: Was passiert, wenn man eine ökonomische Autonomie an ein Programm übergibt, das im Interesse von einem natürlichen System handelt. Dafür ist die Blockchain ein sehr gutes Tool, weil darin diese Art von autonomem Handeln transparent dargestellt werden kann.

Der Blockchain wird allerdings vorgeworfen, dass sie einen massiven Energieverbrauch hat. Wie verträgt sich das mit Nachhaltigkeit? Kannst du den Vorwurf entkräften?

Ja, das ist sogar relativ leicht zu entkräften. Proof-of-Work (PoW), der Konsens-Algorithmus, der bei Bitcoin, aber auch bei vielen anderen Kryptowährungen beim Mining-Prozess eingesetzt wird, ist tatsächlich sehr rechenintensiv und frisst viel Energie. Das ist nicht mehr zeitgemäß und viele modernere Plattformen benutzen inzwischen andere Lösungen. Zum Beispiel stellt das Ethereum-Netzwerk, das auch wir nutzen, gerade auf Proof-of-Stake (PoS) um, ein Konsens-Algorithmus, wo gar kein Mining benötigt wird.

Zurück zum Wald – wo kommt der bei eurem Projekt ins Spiel?

Naja, letztlich ist der Wald mit seiner Symbolwirkung einfach sehr gut als Narrativ geeignet – um Leuten Dinge besser zu erklären. Das System ist von uns noch nicht fertig entwickelt, wir sind da gerade mitten im Prozess. Aber um zu veranschaulichen, woran wir gerade arbeiten, nehmen wir gerne das Beispiel eines Waldes, der sich selbst abholzt.

Und wie schafft es der Wald, sich selbst zu verwalten? Wie funktioniert das?

Es gibt ein dezentrales Programm, das in der Blockchain gespeichert ist – den Smart Contract. Man braucht außerdem eine Art von Sensor, z.B. Satellitenbilder. Das könnte aber auch der Förster sein, der in den Wald geht und die Daten erhebt. Diese Daten kommen dann ins Oracle, das ist technisch nichts anderes als ein Programm, das Daten verarbeitet und sie in den Smart Contract einspeist. Der Smart Contract trifft dann sehr simple Entscheidungen. Zum Beispiel: Es gibt 100 Bäume, von denen haben X Bäume das Alter Y. Der Smart Contract sagt: Ab dem Alter müssen 30 Prozent gefällt werden – und stellt dann die entsprechenden Lizenzen zum Fällen aus. Das sind im Prinzip Token, die vom User gekauft werden können, wodurch der dann das Recht erlangt, in den Wald zu gehen und diesen Baum zu fällen. Da ist also nicht mehr unbedingt viel menschliche Entscheidungsfindung notwendig, weil diese zwischen dem Oracle und dem Smart Contract stattfindet.

Okay, kurzer Realitätscheck…?

Wir hatten tatsächlich für eine Weile ein Stück Wald in Brandenburg, wo wir das Ganze testen konnten. Wir haben uns dann Leute dazu geholt, die sich mit Waldwirtschaft wirklich auskennen, haben Bäume aufgenommen, uns Algorithmen angeguckt bzw. auch selbst geschrieben, z.B. für die Erkennung von Bäumen auf Satellitenbildern und zur Automatisierung von Prozessen.

Wie weit seid ihr dem selbstverwalteten Wald da gekommen?

Leider rechnen sich Satellitenbilder für so ein kleines Stück Wald überhaupt nicht, das ist viel zu teuer. Außerdem ist das auch noch keine besonders dezentrale Art der Verifikation, da man eine zentrale Quelle hat – wenn diese ausfällt, ist das ganze System kaputt. Jetzt forschen wir an Alternativen und schauen uns an, wie man sowas auf einem relativ kleinen Level machen kann.

Du meinst das große Regal hinter uns, mit den Pflanzen?

Genau, wir haben dafür dieses Test-Case mit 100 Pflanzen gebaut. In unserem Experiment nimmt eine Kamera das ganze Regal regelmäßig ab und für jede Pflanze wird dann eine Analyse gemacht – wie groß die Pflanze ist, wie sie wächst, das Farbspektrum etc. Und dann packen wir diese ganzen Daten in einzelne Tokens. Für das ganze Case wird es also am Ende 100 individuellen Tokens geben. Wir wollen hier untersuchen, wie sich Tokens verhalten, wenn man sie an reale Objekte bindet und ständig verifiziert. Über ein Web-Interface können Leute dieses ganze Regal sehen und die einzelnen Blumen kaufen, verkaufen und damit handeln. Damit haben wir im Prinzip einen Mikromarkt von Tokens, der an einzelne Pflanzen gebunden ist. Uns geht es jetzt erst einmal darum, ein laufendes System zu bauen, um zu zeigen, was die Technologie leisten kann – zu zeigen: Sowas geht, das hat eine reale Weltbindung.

Wo siehst du denn aus deiner projektbezogenen Perspektive das Potenzial der Blockchain für nachhaltige Entwicklung?

Dadurch, dass der Mittelsmann ersetzt werden kann, kann eine direkte Interaktion stattfinden – egal, ob bei Kommunikation oder Preisverhandlung. Vor allem interessant finde ich aber, dass durch die Blockchain bzw. durch verteilte Systeme viele Begriffe durcheinandergebracht und neu hinterfragt werden: Was ist eine Entität und wie kann diese verhandelt werden? Was ist eine Firma, wie kann sie repräsentiert werden? Was ist eine natürliche Person, was ist eine juristische Person?

Was hat das mit nachhaltiger Entwicklung zu tun? Kannst du da ein Beispiel nennen?

Es gibt in Neuseeland einen Fluss, den Whanganui River, der im letzten Jahr als eine juristische Peron anerkannt wurde. Weil Verwaltung und Schutz dieses Flusses nicht geklärt waren, hatten indigene Communities geklagt. Jetzt werden die Rechte des Flusses von zwei Treuhändern vertreten. Und das Modell wird scheinbar interessanter– denn inzwischen gibt es schon drei Flüsse, die zu juristischen Personen erklärt wurden.

Verstehe – und das könnte man also auch auf Naturschutzgebiete übertragen und sagen: Diese Entität hat Rechte, die beschützt werden müssen?

Ganz genau, und daraus ergibt sich eben die Frage, wie diese Rechte verwaltet und vertreten werden. Da könnte unser System sehr viel Sinn ergeben: Damit könnte eine neue Agency geschaffen werden und Ressourcen könnten effizienter und nachhaltiger verwaltet werden. Wir sehen u.a. eine Übertragbarkeit auf die Fortwirtschaft und Naturschutz – also den Erhalt und die Finanzierung von bestimmten Ökosystemen. Da müssen wir aber auch die Fragen stellen: Wo liegen die Eigentums- und Machtverhältnisse? Wer steuert was?

Beim Beispiel Wald hatte ich mich gefragt: Wenn ein Algorithmus bestimmt, wann eine bestimmte Anzahl der Bäume gefällt wird – ist das dann im Interesse des Waldes?

Ja, man muss fragen: Wer stellt diese Kriterien für den Algorithmus eigentlich auf? Es gibt immer eine Politik oder eine Art der Ideologie, die in eine bestimmte Technologie implementiert ist – und die muss diskutiert und analysiert werden. Wir sind immer ganz froh, wenn Leute uns sagen: Moment mal, das ist bei euch aber doch gar nicht der Wald! Und dann sagen wir: Stimmt! Es ist ein Programm, das jemand geschrieben hat.

Und dann steht ja immer die Frage im Raum, wer eigentlich die Infrastruktur für die Blockchain stellt. Da kann es zu Interessenskonflikten kommen.

Das stimmt, aber das ist vor allem ein Governance-Problem. Das ist dann keine technologische Frage, sondern da sprechen wir über soziale Fragen und über Fragen von Verteilung. Kann eine Technologie sowas lösen? Ich weiß es nicht.

Dabei wird ja oft so getan, als sei „die Blockchain“ die Lösung für sämtliche Probleme.

Tja, Technologie kann wohl nicht per se alle gesellschaftlichen Probleme lösen, aber sie kann ein Hebel sein. Und sie ist auch ein Tool, um gesellschaftliche Probleme zu diskutieren, um Diskurse in Gang zu bringen. Das ist auch eines unserer Projektziele: Dass wir Fragen anstoßen. Was macht ein selbstverwalteter Wald? Was an diesem System ist im Vergleich besser, was schlechter? Die Ergebnisse aus solchen Diskursen kann man dann auch auf andere Automatisierungsprozesse übertragen.

Wie geht’s bei eurem Projekt jetzt weiter?

Unser kurzfristiges Ziel ist, das Ding zum Laufen zu bringen. Und wir möchten natürlich ein Funding bekommen, um unsere Technologie zu entwickeln. Letztlich sind wir wohl immer irgendwo zwischen Technologieentwickler und Think Tank: Wir wollen den Diskurs mitschleifen und das Ganze vor allem auf einem globaleren Level denken.

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