Soziale „Tipping Points“ könnten entscheidende Hebel im Kampf gegen den Klimawandel sein

Laut einer Studie könnten soziale "Tipping Points", auch Kipppunkte genannt, weitreichende gesellschaftliche Veränderungen anstoßen und so den Klimawandel eindämmen.

Autor*in Leonie Asendorpf, 19.10.20

Übersetzung Leonie Asendorpf:

„Tipping points“, auf deutsch Kippelemente oder Kipppunkte – diese Begriffe kennt man bisher vor allem als Bezeichnung für physikalische Phänomene. In der Klimaforschung bezeichnet der Begriff Veränderungen, die unumkehrbare Entwicklungen in Gang setzen. Dazu gehört zum Beispiel das Auftauen der arktischen Permafrostböden oder sich gegenseitig verstärkende Rückkopplungen, die zu einer Heißzeit führen könnten. Forschende warnen, dass diese Kipppunkte mit einer fortschreitenden Erderwärmung häufiger werden und sie den Klimawandel weiter beschleunigen .

Eine neue Studie hat nun sogenannte „social tipping points“ (STEs), also soziale Kipppunkte, untersucht und herausgefunden, wie diese dem weltweiten Klimawandel entgegenwirken könnten. Physikalischen und sozialen Kippelementen ist gemein, dass sie bereits durch geringe äußere Einflüsse scheinbar plötzlich unumkehrbar in einem neuen Zustand münden können. „STEs sind Subdomänen des planetaren sozioökonomischen Systems, in denen die erforderlichen störenden Veränderungen stattfinden und zu einer ausreichend schnellen Reduzierung der anthropogenen Treibhausgasemissionen führen können“, so die Studienautor*innen. Die Studie wurde von einem internationalen Team aus Wissenschafter*innen um die Forscherin Ilona Otto vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) entwickelt.

Soziale tipping points zur Einhaltung der Klimaziele bis 2050

Ausgangspunkt für die im Fachmagazin PNAS der Nationalen Academy of Sciences der USA veröffentlichte Studie war die Suche nach Eingriffsmöglichkeiten, die das Potenzial haben, neue Technologien, veränderte Verhaltensweisen oder soziale Normen, die den Klimaschutz vorantreiben, schneller zu verbreiten. Für ihre Analyse haben die Studien-Autor*innen Wissenschaftler*innen auf der ganzen Welt nach wichtigen sozialen Kipppunkten befragt.

Insgesamt wurden 207 soziale Kippelemente vorgeschlagen. Aus diesen erarbeiteten die Forschenden eine Auswahl aus sechs besonders aussichtreichen Effekten. Eine Voraussetzung für die Auswahl war, dass die ausgewählten Kipppunkte in den nächsten 15 Jahren greifen können – denn nur so können die Klimaziele für 2050 erreicht werden.

Förderung erneuerbarer Energien, kohlenstoffneutrale Städte und Aufklärung

Die Forschenden kommen zu dem Ergebnis, dass beispielsweise eine staatliche Subventionierung von erneuerbaren Energien (STE1, Energieerzeugungs- und -speichersysteme), anstatt der Energieerzeugung aus fossilen Brennstoffen, ein zentrales Mittel darstellt, um den Klimawandel einzudämmen. Die Stromerzeugung durch Photovoltaik-Anlagen oder Windräder könnten sich, so die Studie, als dauerhaft günstigere Variante erweisen. Generell stellen Fördergelder laut Studie wichtige soziale Kipppunkte dar. Ein Beispiel dafür ist die Europäische Investitionsbank (EIB). Diese hat erst vor kurzem angekündigt, ihre Investitionen in fossile Brennstoffe wie Kohle und Öl von Ende 2021 an einzustellen. Auch die EU setzt im Rahmen der EU-Strategie zur Integration des Energiesystems („Green Deal“) auf die Förderung erneuerbarer Energien.

Als zweites STE nennen die Studienautor*innen den Bau klimaneutraler Städte (STE2, Siedlungen) und als drittes den Ausstieg aus finanziellen Vermögenswerten, die in Zusammenhang mit fossilen Brennstoffen stehen (STE3, Finanzmärkte), sowie Anreize für dezentralisierte Energie. Weiter zählen sie zu den wichtigen sozialen Kipppunkten für eine nachhaltige globale Dekarbonisierung eine verstärkte Aufklärung über den Klimawandel und die moralischen Implikationen der Nutzung fossiler Brennstoffe (STE4, Normen und Wertesysteme) als auch eine Stärkung der Klimabildung und des Klimaschutzes (STE5, Bildungssystem) und die Offenlegung von Informationen zu Treibhausgasemissionen (STE6, Informationsrückmeldungen).

Politische und wirtschaftliche Machtfragen nicht in Studie mit einbezogen

Lob bekam die Studie bereits von Claudia Kemfert, Energie- und Umweltexpertin beim Deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut (DIW). Gegenüber heise.de nannte sie die Studie einen „innovativen“ Ansatz. Die Forschenden hätten „zentrale Elemente benannt und erkannt, die absolut wichtig sind, um die Klimaziele zu erreichen.“ Die Wissenschaftler*innen bestätigten, „dass bisherige Ansätze nicht nur naturwissenschaftliche, sondern vor allem soziale und ökonomische Kipppunkte gleichwertig einbeziehen müssen, um auf allen Ebenen erfolgreichen Klimaschutz durchsetzen zu können“. Der Kasseler Umweltpsychologe Andreas Ernst kritisiert jedoch, dass die besprochenen Eingriffe „politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren“ noch völlig ausblendeten. Wie hier bestehende Strukturen aufgebrochen werden können, um den Boden für weitreichende Veränderungen zu bereiten, darauf liefert die Studie keine Antworten. Doch globale Protestbewegungen wie Fridays for Future sorgen, unter anderem, dafür, dass sich mehr Wissen über den Klimawandel und die Möglichkeiten der Eindämmung in der Gesellschaft verbreitet und machen so Hoffnung, dass dies auch zu Veränderungen in den „Beharrungsstrukturen“ in Politik und Unternehmen führt.

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