Peopleless Protest: Trotz Lockdown für die Rechte von Geflüchteten demonstrieren

Yunus Berndt
Symbole und Fotos, die online geteilt werden, rücken an die Stelle von Massendemonstrationen von Menschen.

Wie können Bürgerinnen und Bürger gegen Ungerechtigkeit protestieren und sich für Veränderungen einsetzen, wenn Menschenansammlungen eingeschränkt sind? Wir sprachen mit dem Aktivisten Yunus Berndt, der innovative Protestformen in Zeiten von "Social Distancing" erkundet.

Autor Mark Newton:

Übersetzung Mark Newton, 19.05.20

Die Covid-19-Pandemie hat enorme Auswirkungen auf das Alltagsleben vieler Menschen weltweit. Obwohl viel Sendezeit und redaktioneller Raum den Auswirkungen dieser Einschränkungen auf die Wirtschaft und die sozialen Strukturen der betroffenen Länder gewidmet wird, haben viele andere wichtige Aspekte der Zivilgesellschaft Mühe, sich in dieser beispiellosen Zeit Gehör zu verschaffen.

Traditionell nutzen beispielsweise Aktivist*innen Massenversammlungen im öffentlichen Raum, um ihre Anliegen bekannt zu machen und Druck auf staatliche Akteure auszuüben. Die Beschränkungen für öffentliche Versammlungen machen solche Ansätze des Protestes jedoch derzeit unmöglich. Daher müssen Protestbewegungen ihre Strategien während der Coronavirus-Pandemie anpassen. Yunus Berndt, der sich als Aktivist für soziale Themen einsetzt, hat eine innovative Methode entwickelt, wie Protestbewegungen trotz Social Distancing auch weiterhin wahrgenommen werden können.

Noch Anfang März war Yunus Teil der Bewegung „Europe Must Act„, deren Ziel es war, europaweite Proteste zu organisieren, um auf die Not Geflüchteter aufmerksam zu machen, die in beengten Lagern auf Inseln in der Ägäis festgehalten werden. Als das Virus in der EU – zuerst in Italien und dann auch in weiteren Ländern – Fuß zu fassen begann, setzten die europäischen Staaten Vorschriften zum Verbot von Massenversammlungen um. Damit war auch den Plänen von Europe Must Act zunächst ein Ende gesetzt.

Yunus entwickelte daher die Idee des Peopleless Protest – des Protests ohne Menschen – weiter, um die Botschaft des Europe Must Act am Leben zu erhalten. Dabei nutzen diejenigen, die sich für verschiedene Anliegen einsetzen wollen, Symbole und soziale Medien als Mittel, um ihre Anliegen zu verbreiten. Yunus‘ Idee besteht aus drei Elementen: einem „Marker“, einer Aufzeichnung und einer Versammlung.

Ein Marker ist ein symbolischer Gegenstand, der als Ersatz für eine Person in einer Protestbewegung fungieren soll. Der Marker sollte sich von seiner Umgebung abheben, um aufzufallen, und eine Bedeutung vermitteln – zum Beispiel ein gestreifter Blumentopf oder eine mit Kreide gezeichnete Silhouette auf dem Bürgersteig. Der nächste Schritt besteht darin, diesen Marker zu erfassen, zum Beispiel per Foto, und dieses in sozialen Medien oder auf einer speziellen Website zu veröffentlichen.

Schließlich sollten all diese Aufzeichnungen zusammengeführt und an einem einheitlichen Ort ausgestellt werden, um die Art eines Protests zu reproduzieren – aber in einem Online-Raum. Dies können Social-Media-Hashtags oder Pins auf einer Karte sein, die die Standorte der Markierungen zeigen. Auch wenn sich die Personen hinter den Markierungen in Wirklichkeit vielleicht noch nie getroffen haben, können ihre Vertreter*innen im Internet zusammenkommen.

Für seinen Peopleless Protest hat Yunus eine Silhouette als Marker zur Unterstützung des Europe Must Act verwendet. Die Silhouette hebt sich in der Öffentlichkeit nicht nur deutlich ab, sondern respektiert auch die Privatsphäre des Einzelnen und steht gleichzeitig als Symbol für diejenigen, die nicht in Person auf der Straße sein können. Die verschiedenen Silhouetten, einige in Kreide, andere auf Papier, wurden dann gesammelt und auf eine Karte auf der Seite Europemustact.de „geklebt“.

Die Idee ist aufgegangen, und Seebrücke, eine führende deutsche Organisation, die sich für die Rechte von Geflüchteten bei der Überquerung des Mittelmeers einsetzt, hat ähnliche Ideen aufgegriffen, um ihre Proteste auch während des Lockdowns sichtbar zu machen. RESET sprach mit Yunus über das Konzept eines Protests ohne Menschen und darüber, wie sich die Covid-19-Pandemie auf die Aktivistenbewegung auswirkt.

Yunus, welche besonderen Herausforderungen für Protest- und zivilgesellschaftliche Organisationen sind durch die Covid-19-Pandemie entstanden?

Man könnte meinen, dass Protestbewegungen leicht zu sozialen Medien übergehen, Kanäle nutzen können, die sie ohnehin haben, und dadurch ihre Arbeit online fortsetzen. Aber das vernachlässigt die Tatsache, dass die Maschine der sozialen Medien anders funktioniert. Sie konkurrieren in den sozialen Medien mit Hunderten von anderen Dingen – Anzeigen, persönlichen Postings, anderen Kampagnen – um die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer. Das macht es für kleine Initiativen schwierig.

Hinzu kommt die Tatsache, dass die Menschen derzeit viel vor dem Bildschirm sitzen müssen, sei es zum Arbeiten oder zum Studieren, und deshalb nur ungern aus sozialen oder politischen Gründen zusätzlich online bleiben. Natürlich gibt es einen harten Kern von Aktivistinnen und Aktivisten, denen das nichts ausmacht, aber genau diese Menschen – diejenigen, die bereits von ihrer Sache inspiriert sind – sind genau der Personenkreis, über den wir normalerweise hinausgehen möchten. Die Menschen am Rande des Aktivistenkreises kann man als „Passivisten“ bezeichnen: Sie unterstützen die Sache, aber sie brennen nicht wie die Aktivisten für die Sache. Unter normalen Umständen würden sie sich gelegentlich einer Demonstration anschließen, weil ein Freund oder Mitbewohner hingeht. Für sie ist es in erster Linie ein gesellschaftliches Ereignis und in zweiter Linie eine politische Dringlichkeit. Dieses soziale Element geht nun in der virtuellen Sphäre verloren.

Wenn es um Organisationen geht, gibt es eine Reihe von Zwängen, die sich aus Covid-19 ergeben. Da ist die Zeit, die unweigerlich mit der Umstrukturierung und der zusätzlichen Kommunikation von den Heimarbeitsplätzen aus verloren geht, die Dezimierung der Teams vor Ort – insbesondere der humanitären Helfer*innen vor Ort, die nach Hause fliegen mussten, und oft auch die schlechten finanziellen Aussichten.

Wie haben sich die Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit insbesondere auf die Protestbewegungen ausgewirkt?

In etablierten Demokratien ist die Demokratie „auf Eis gelegt“. Das bedeutet nicht, dass die Demokratie ausgesetzt ist, sondern dass wir den außerparlamentarischen politischen Diskurs in die Zukunft verschoben haben. In diesem Sinne werden viele Bewegungen durch die Pandemie nicht getötet, sondern eher gewaltsam angehalten.

So werden in den etablierten Demokratien die Bewegungen wieder auf die Straße gehen, sobald die Pandemie vorüber ist – oder früher. Ich glaube jedoch nicht, dass das Zurückkommen einfach sein wird: Kampagnen müssen eine neue Dynamik entwickeln, und Bewegungen, die eine Verschiebung der Ressourcenzuteilung fordern, werden es schwer haben. Sie werden Schwierigkeiten haben, Investitionen in Klimagerechtigkeit zu fordern, wenn ihre Regierung sich gerade mit Schulden überlastet hat.

Welches sind die langfristigen Risiken für Protestbewegungen in der Zukunft?

Ich gehe davon aus, dass es aufgrund der Pandemie keine radikalen Veränderungen geben wird, zumindest nicht in den wohlhabenderen Ländern. Wir werden vielmehr ein Kontinuum von Trends vor der Krise erleben. Autoritäre Entwicklungen, wie wir sie in China und beunruhigenderweise auch in Ungarn finden, werden durch die Krise erleichtert, gefördert und beschleunigt werden, aber wir haben diese Trends bereits vorher beobachtet. Die Aktivisten in diesen Ländern kämpfen also weiterhin mit ihren Regimes, und sie müssen weiterhin nach kreativen Wegen suchen, um ihre Stimme zu erheben.

Ich glaube, dass in demokratischen Gesellschaften der öffentliche Druck stark genug ist, um den Status quo in irgendeiner Form wiederherzustellen. Jeder weiß von Natur aus, dass wir eine Ausnahme erleben, die eines Tages vorbei sein wird. Diese Rückkehr zum „Normalen“ ist in einigen Fällen ein Glücksfall, in anderen weniger, wie etwa bei der Umwelt.

Wenn die Menschen unter strengen Einschränkungen stehen und sich dennoch in bestimmten Fragen Gehör verschaffen wollen, welchen Rat würdest du ihnen dann geben?

Ausgezeichnete Frage. Katharina Balazs, Professorin an der European School of Management, schreibt, dass Krisen die Menschen dazu veranlassen, eine „Angst vor einer narzisstischen Verletzung zu kultivieren, vor der Erkenntnis, dass der gegenwärtige Zustand nicht gut genug ist, [was] zu einer eingefrorenen Haltung beitragen kann, [wo] wir das bekannte ‚Schlechte‘ dem vielversprechenden Unbekannten vorzuziehen scheinen“.

Wir haben es hier also mit einer Ausnahmesituation zu tun, und einige Aktivisten könnten dazu neigen, sie als „keine guten“ Zeiten für Demonstrationen, außerparlamentarische Opposition, für jede Form des Protests zu betrachten. Wie ich schon sagte, setzen sie die Demokratie auf Eis, sie zensieren sich selbst, oder, wie Balazs sagt, sie „frieren“ ein. Doch das ist ein Fehler und eine echte Gefahr für die Demokratie.

Sich zu sehr auf die vertrauten – und physischen – Instrumente der politischen Partizipation zu verlassen, die derzeit unzureichend oder „schlecht“ sind, und auf ihren richtigen Zeitpunkt zu warten, ist ebenso unverantwortlich, wie sie jetzt gegen jeden gesunden Menschenverstand einzusetzen. Vielmehr sollten wir uns das „vielversprechende Unbekannte“ zu eigen machen, neue Möglichkeiten erkunden und im Gefolge von Covid-19 innovativ sein. Menschenlose Proteste sind eine solche Neuerung, die Proteste auch in Zeiten strenger Ausgangssperren ermöglicht, und ich arbeite daran, einen ihrer größten Mängel zu beseitigen, nämlich den Mangel an sozialer Interaktion. Aber ich freue mich darauf, in den kommenden Wochen, vielleicht Monaten, viele andere neue Formen des Protests aufkommen zu sehen. Die Zeit für Innovationen ist jetzt gekommen.

Vielen Dank, Yunus!

Europe Must Act setzt seine Online-Aktivitäten fort und fordert die sofortige Evakuierung der Flüchtlingslager in der Ägäis und die Umsiedlung von Asylbewerbern in ganz Europa. Besuche europemustact.org für weitere Informationen und Möglichkeiten, dich zu engagieren.

Weitere Ideen, wie du anderen helfen und online während der Covid-19-Krise Solidarität zeigen kannst, findest du in unserem Artikel: Wie wir während der Corona-Krise helfen können

Dieser Artikel ist eine Übersetzung von Indra Jungblut. Das Original erschien zuerst auf unserer englischen Seite.

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