„Lest, informiert euch und habt Empathie!“ Interview mit der argentinischen Aktivistin Jennifer Villarroel

Land-, Wasser- und Luftverschmutzung, Fluten, Entwaldung und Dürren – das konnte Jennifer Villarroel schon als Kind in Argentinien beobachten. Daher erhebt sie ihre Stimme und ruft die Regierung – und auch die globale Gemeinschaft – zum Handeln auf. Über dies und mehr berichtet sie im Interview.

Autor Jan Wisniewski:

Übersetzung Jan Wisniewski, 15.10.20

Gerade Menschen im globalen Süden sind am stärksten von den menschengemachten Klimaveränderungen betroffen. Und sie sind genauso auch Aktivist*innen, Pädagog*innen und Entscheidungsträger*innen für den Wandel. Sie engagieren sich für eine bessere Welt, sie sind innovativ und inspirieren andere, die Probleme anzugehen, mit denen wir als Menschheit konfrontiert sind. Doch in den Medien fehlt es oft an Vielfalt, wenn es um ihre Stimmen und Erfahrungen geht. Mit dieser Interview-Reihe mit Umwelt- und Klima-Aktivist*innen aus Lateinamerika, Afrika und Asien wollen wir dazu beitragen, dieses Ungleichgewicht zu beheben und unterrepräsentierten Stimmen innerhalb der Klimabewegung Gehör verschaffen.

Argentinien brennt, im wahrsten Sinne des Wortes. Wald- und Grasbrände breiten sich in den nördlichen und zentralen Teilen des Landes aus, angeheizt durch extrem trockenen Phasen während der letzten zehn Jahre. Auch wenn die konkreten Ursachen der jüngsten Brände umstritten sind, ist klar, dass Argentinien ein großes Problem mit der Abholzung der Wälder hat. Einem Bericht des Ministeriums für Umwelt und nachhaltige Entwicklung zufolge verlor Argentinien zwischen 1998 und 2018 eine Waldfläche, die 320 Mal so groß war wie seine Hauptstadt. Von den insgesamt 16 Millionen Hektar befanden sich 87 Prozent im Chaco-Wald, der sich über Paraguay, Argentinien, Bolivien und Brasilien erstreckt und der neben dem Amazonas einer der wichtigsten Wälder Lateinamerikas in Bezug auf Artenvielfalt und Größe ist

In diesem Interview sprechen wir mit Jennifer Villarroel, einer Klimaaktivistin aus der Stadt Salta im Nordwesten Argentiniens. Während Initiativen zum Schutz der Umwelt des Landes in der Vergangenheit erfolgreich waren, scheint die gegenwärtige Regierung kein Interesse an der Durchsetzung von Umweltschutzgesetzen zu haben und stellt nicht genügend Mittel zur Finanzierung von Naturschutzmaßnahmen bereit. Und die Entwaldung ist nur eines von einer ganzen Reihe von Umwelt- und Klimaproblemen, mit denen das Land konfrontiert ist. Jennifer spricht mit uns über ihre Überzeugung, dass die Bürgerinnen und Bürger das Recht und die Pflicht haben, von ihren Regierungen eine gesunde Umwelt einzufordern. Und sie hofft, dass wir aus den Nachwirkungen von Covid-19, der Medienzensur und der mächtigen Rolle digitaler Werkzeuge in Argentinien lernen werden, um Menschen, deren Stimmen allzu oft ungehört bleiben, eine Plattform zu bieten.

Jennifer, wie hast du zum ersten Mal etwas über den Klimawandel erfahren?

Über den Klimawandel bin ich mir seit meiner Kindheit bewusst, da meine Provinz direkt betroffen ist durch Land-, Wasser- und Luftverschmutzung, Überschwemmungen, Entwaldung, Dürren und umweltverschmutzende Industrien. Als Kind dachte ich, dass ich gegen all diese Probleme nichts tun könnte, dass die Welt so weitergehen würde und nichts daran etwas ändern könnte… Aber heute, als junge Frau, verstehe ich, dass ich als Bürgerin kleine Schritte machen kann und dass ich die Pflicht und das Recht habe, von meiner Regierung eine gesunde Umwelt einzufordern. Junge Menschen sind nicht die Zukunft, wir sind die Gegenwart, und wir werden für die Zukunft der neuen Generationen kämpfen.

Was ist mit den Studentenstreiks? Was war deine Motivation, dich bei „Fridays for Future“ zu engagieren?

Ich engagiere mich für “ Fridays for Future“, seit die Bewegung im Juni 2019 in meiner Provinz angekommen ist. Meine Motivation kommt daher, dass ich die Folgen des Klimawandels selbst erlebt habe. Als ich Fridays For Future und seine Mission, für die Zukunft kommender Generationen zu kämpfen, entdeckte, habe ich nicht gezögert, mich der Bewegung anzuschließen, und ich fühle mich mit ihrem Leitbild und ihrer Arbeitsweise vollkommen wohl. Ich betrachte alle Aktivisten von „Fridays For Future“ in Argentinien als großartige Freunde, und sie sind heute meine Motivation.

Wie hat das Coronavirus die Proteste in Argentinien beeinflusst?

Covid-19 hat einen enormen Einfluss auf unsere Demonstrationen gehabt, unser Land hat den Ausnahmezustand eingeführt, der eine soziale Isolierung bewirkt. Aus diesem Grund durften wir nicht auf den Straßen der Stadt demonstrieren. Vor diesem Hintergrund beschloss Fridays For Future Salta, sich dem digitalen Streik anzuschließen. Anfangs war es schwierig, weil diese Situation entmutigend ist, aber heute sind wir aktiver. Die Situation hat uns gelehrt, mit verschiedenen digitalen Werkzeugen umzugehen, die wir vorher nicht genutzt haben. Das ermöglicht uns, mehr denn je zusammen zu sein und unsere Streiks fortzusetzen. Auf unserem YouTube-Kanal kann jede*r Fridays for Future verfolgen und viele interessante Webinare finden, die während der Pandemie aufgezeichnet wurden.

Welche Rolle haben digitale und soziale Medien in deiner eigenen Entwicklung als Aktivistin gespielt?

Ich habe keine wirklich gute Meinung von den Medien. Die Einladungen zu Interviews habe ich nicht positiv erlebt. Leider wurde mir nur Raum gegeben, um zu versuchen, meinen Kampf herunterzuspielen oder einfach nur, weil „es in Mode ist“. Ich bin bisher noch nicht auf Medien gestoßen, die ein echtes Interesse am Klimawandel und meinem Klimastreik haben. Die digitalen Medien sind viel einladender und offener. Ich kann sogar mein eigener Interviewer sein und über all die Themen sprechen, die mir am Herzen liegen. Zumindest in meiner Stadt nutzt die überwiegende Mehrheit der Menschen soziale Netzwerke, um sich Gehör zu verschaffen, denn es ist sehr schwierig, in einer Fernsehsendung interviewt zu werden oder eine Story in der Zeitung zu bekommen.

© Jennifer Villarroel

Gibt es Positives, was deiner Meinung nach aus der aktuellen Krise hervorgehen könnte?

Ich denke, dass wir aus dieser Pandemie lernen müssen, mit dem Verzehr von Tieren aufzuhören, denn wirklich viele schwere Krankheiten werden durch den Verzehr von Tieren verursacht. Diese Pandemie hat uns auch gezeigt, wie schwach einige Länder in ihrer Entwicklung sind – zum Beispiel gibt es in meiner Stadt schreckliche Defizite im Gesundheitssektor. Ich weiß das, weil meine Großmutter dort arbeitet. Wir haben nur 8 medizinische Atemschutzgeräte, und die Angestellten müssen selbstgemachte Masken tragen, weil die Regierung nicht genug davon zur Verfügung stellt. Es hat auch den sozialen Sektor zu sehr in Mitleidenschaft gezogen, die weltweite Kampagne sagt „wascht eure Hände“, aber unsere indigenen Gemeinden haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Sie sagen „bleibt zu Hause“, aber die Armut in der Stadt Salta liegt bei 7,7 Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen können nicht einfach zu Hause bleiben, sie müssen arbeiten, um ihre Familien zu ernähren, oder sie haben vielleicht nicht einmal ein Zuhause. Ich hoffe nur, dass wir aus unseren Misserfolgen lernen können, um als Gesellschaft zu wachsen. Es wäre gut, wenn wir lernen könnten, uns um unseren Planeten zu kümmern, ohne so viele Tote zu haben.

Die Proteste scheinen viel Aufmerksamkeit zu erhalten – aber das bedeutet nicht, dass die Entscheidungsträger*innen viel tun. Warum ist das deiner Meinung nach so?

Aus meiner Erfahrung habe ich gelernt, dass die große Mehrheit der Regierungsbeamten Kollegen derjenigen sind, denen die umweltverschmutzenden Unternehmen gehören. Ich denke, dass aufgrund eines starken Interessenkonflikts nichts unternommen wird. Das ist auch der Grund, warum wir kämpfen: damit die Regierung uns zuhört und versteht, dass die Klimakrise unsere Zukunft belasten wird und dass wir das nicht zulassen werden.

Was sind die Schlüsselbotschaften hinter deinem persönlichen Protest? Was steht auf dem Plakat, das du hochhältst? Und wer sollte es sehen?

Wenn wir demonstrieren, nehmen wir immer unsere „Fridays For Future“-Flagge mit. Ich habe nicht nur ein Plakat, sondern ich mache eines abhängig von den Ungerechtigkeiten, die in meiner Gegend derzeit am stärksten sind. Ich habe Plakate gegen Abholzung, Stadtverschmutzung, Wasser- und Luftverschmutzung, um die Rechte der indigenen Völker einzufordern, gegen den groß angelegten Bergbau und vieles mehr. Leider gibt es dort, wo ich lebe, eine riesige Bandbreite verschiedener Umweltprobleme. Wir demonstrieren vor dem Legislativpalast der Stadt Salta, wo einige der Regierungsbeamten arbeiten. Wir wollen, dass sie uns sehen, damit sie sich bewusst werden und mit der Arbeit an der öffentlichen Umweltpolitik beginnen.

Was erhoffst du dir vom Global Strike for Climate?

Ich hoffe vor allem, dass der globale Klimastreik die Regierung veranlassen wird, Maßnahmen zu ergreifen, um die Auswirkungen der globalen Erwärmung zu verlangsamen oder zu verringern. Ich hoffe auch, dass er ein soziales Bewusstsein für die Umwelt schaffen wird und dass wir als Bürger die Verantwortung haben, einen nachhaltigeren Lebensstil zu wählen. Ich weiß, es ist ein schwieriger Weg, für einige Länder wird er schwieriger sein als für andere, aber die Wissenschaft zeigt uns, dass es keine Zukunft geben wird, wenn wir nicht handeln.

Gibt es noch etwas, was du unseren Lesern mitteilen möchtest?

Ich möchte, dass alle aufwachen und den Planeten lieben, jede Handlung zählt. Allein die Mülltrennung zu Hause ist ein großer Schritt nach vorn! Wir müssen uns motivieren, uns eine Welt vorzustellen, in der künftige Generationen die Natur frei genießen können. Pachamama [Bedeutung: Mutter Erde, Anm. d. Red.] schreit nach Hilfe. Wir können sie hören, aber wir tun nichts! Lest, informiert euch und habt Einfühlungsvermögen! Wir haben nicht viel Zeit, um unsere Zukunft zu retten.

Fridays for Future Argentina kannst du auf Twitter und Instagram folgen, weitere Informationen über die nordwestliche Region Argentiniens, in der Jennifer lebt, findest du auf Instagram: Fridays for Future Salta

Dieser Artikel ist eine Übersetzung von Sarah-Indra Jungblut. Das Original erschien zuerst auf unserer englischsprachigen Seite.

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