„Wie können wir Geschäftsmodelle schaffen, die nicht auf Gier basieren?“ – Interview mit Friedensnobelpreisträger Yunus

Der Vater der Mikrofinanzierung, Muhammad Yunus, sprach mit RESET über Social Business, radikalen Systemwandel und wie Entrepreneurship genutzt werden sollte, um die dringendsten Herausforderungen des Planeten zu bewältigen.

Autor Marisa Pettit:

Übersetzung Marisa Pettit, 11.11.19

Muhammad Yunus ist weltweit als „Vater der Mikrofinanzierung“ bekannt. Er wurde für seine Pionierarbeit bei der Armutsbekämpfung in seiner Heimat Bangladesch und darüber hinaus mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seine Mikrokreditbewegung fördert seit über 40 Jahren die soziale und wirtschaftliche Entwicklung von unten: Menschen, die vom traditionellen Bankensystem ausgeschlossen sind, werden kleine Summen Startkapital zur Verfügung gestellt und erhalten so Zugang zu Finanzdienstleistungen und unternehmerische Möglichkeiten.

Darüber hinaus setzt sich Professor Yunus aktiv für das Konzept des „Social Business“ ein: Unternehmen, die sich zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme aufmachen und sich auf die Maximierung der Wirkung – und nicht auf Gewinne – konzentrieren. In den letzten Jahren hat dieses Konzept große Aufmerksamkeit erlangt. Der Bereich Social Entrepreneurship und Ecopreneurship wächst stetig und immer mehr Gründer*innen stellen neben einem nachhaltigen Geschäftsmodell den Impact ihres Unternehmens in den Vordergrund.

Für das Global Social Business Summit 2019 war Professor Yunus in Berlin. Diese Veranstaltungsreihe bringt Akademiker*innen, Jugendliche und Aktivist*innen der Sozialwirtschaft zusammen und beleuchtet die Rolle sozialer und wirtschaftlicher Innovationen für die Gestaltung einer besseren Welt. In diesem Rahmen besuchte Professor Yunus auch das RESET-Büro auf dem Holzmarkt und sprach mit uns über die Veranstaltung, über seinen Traum von einer „Welt der drei Nullen“ und wie eine solche Welt Wirklichkeit werden kann – bevor es zu spät ist.

Professor Yunus, willkommen in Berlin! Was haben Sie sich vorgenommen, während Sie hier sind?

Wir haben eine sehr einfache Idee: Wir möchten eine ganz neue Zivilisation schaffen. Unsere gegenwärtige Zivilisation wird nicht funktionieren, sie steuert auf eine Katastrophe zu, und die Deadline ist nicht mehr weit entfernt. In nur 30 bis 40 Jahren wird alles vorbei sein. Bevor das passiert, sollten wir einen neuen Weg gehen, uns in eine neue Richtung bewegen. Wenn wir den alten Weg fortsetzen, werden wir weiterhin das, was wir bisher getan haben, wiederholen – auf eine noch schlimmere Weise. Der gleiche Weg führt uns zum immer gleichen Ziel. Wenn du woanders hinwillst, musst du neue Straßen bauen. Wir wissen nicht, wie diese aussehen werden, aber wir müssen es versuchen. Das ist es, was wir gerade tun – hier in Berlin.

Diese neue Zivilisation definieren wir als „eine Welt der drei Nullen“: null Armut, null Arbeitslosigkeit und null Netto-CO2-Emissionen. Wenn wir diese drei Dinge erreichen, wird der Rest folgen. Wir werden eine Welt haben, in der der Reichtum nicht in wenigen Händen angehäuft wird. Es wird eine Zivilisation des Teilens, der Fürsorge und der menschlichen Werte sein.

Was sind die wichtigsten Herausforderungen beim Aufbau einer solchen teilenden, fürsorglichen Zivilisation?

Eine davon ist die Vermögenskonzentration. Der gesamte Reichtum geht in eine Richtung, in die Hände einiger weniger Menschen. Wenn heute 100 Menschen den größten Teil des Reichtums haben, werden es morgen 50 Menschen sein, dann 30, dann 20. Das ist eine tickende Zeitbombe und sie steht kurz davor zu explodieren. Die Menschen werden das nicht tolerieren, dafür gibt es bereits einige Anzeichen: Der Brexit, die Gelbwesten-Bewegung, die Demonstrationen in Chile…. Es geht immer um das gleiche Thema.

Eine andere Sache ist die Umwelt. Nur wenn es uns in 20 Jahren gelingt, die globale Erwärmung auf 1,5 bis maximal 2 Grad Celsius zu begrenzen, werden wir überleben. Wenn wir das nicht können, werden wir es nicht schaffen. Dann ist es vorbei. Es gibt nicht viel Spielraum und nicht viel Zeit.

Eine weitere Herausforderung ist die Künstliche Intelligenz, die die Arbeit der Menschen übernehmen soll. Sie hat keinen Boss. Sie wird von selbst intelligenter und wird sich viel schneller entwickeln als das menschliche Gehirn. Technologie kann ein Segen oder ein Fluch sein, und wir müssen lernen, eine Grenze zu ziehen. Wir sollten dem Vorbild der Medizin folgen: Man kann nicht einfach jedes Medikament entwickeln, wie man möchte. Es gibt staatliche und öffentliche Kontrollen, um festzustellen, ob ein Medikament gut ist oder ob es Nebenwirkungen gibt. Erst nach 10 bis 20 Jahren darf man das Medikament verkaufen. Bei KI machen wir das aber nicht so. Es gibt keine Tests oder Kontrollen.

Sie sagten, dass der Wendepunkt naht und dass unsere Zivilisation nicht nachhaltig ist – aber noch haben wir Zeit. Wo sehen Sie die Möglichkeiten zur Veränderung? Wo können und sollen wir anfangen?

Oh, ich habe es nicht so nett ausgedrückt – ich sprach von einer „Katastrophe“! Und viel Zeit haben wir nicht. Die zentrale Kraft in unserer Welt ist die Gier – und das ist es, was wir angehen müssen. Wie können wir Geschäftsmodelle schaffen, die nicht auf Gier basieren? Das ist, was wir tun, und wir nennen es „Social Business“. Denn das basiert nicht auf Gier, sondern auf menschlichen Bedürfnissen. Social Businesses sind „problemlösende Unternehmungen“, die ohne die Intention gegründet werden, dass jemand damit einen persönlichen Gewinn erzielt. Das Unternehmen erzielt Gewinne und diese Gewinne werden wieder in das Unternehmen investiert – um die Probleme von Armut, Arbeitslosigkeit, Bildung, Gesundheitsversorgung und Umwelt zu lösen.

Aber in der Regel läuft das heute anders: Nach wie vor machen die Leute vor allem Geschäfte, um Geld zu verdienen, unabhängig von den Folgen.

Sozialunternehmen und grüne Startups sind heutzutage oft auf die Finanzierung von großen Investoren angewiesen, um ihre Ideen zu entwickeln. Das ist eine ganz andere Form der Finanzierung als die, die Sie selbst in Bangladesch entwickelt haben: die der Mikrofinanzierung und Kleinkredite für Kleinunternehmer. Wie sehen Sie die Entwicklung dieser verschiedenen Finanzierungsformen, die ja beide auf einen positiven Impact abzielen?

Das sind zwei verschiedene Welten. Bei der Mikrofinanzierung geht es um kleine Beträge, zwischen 10 und 500 Dollar. Für die Menschen sind Finanzdienstleistungen wie wirtschaftlicher Sauerstoff. Wenn man diesen Sauerstoff nicht hat, kann man nicht arbeiten und nicht funktionieren. Sobald Menschen Zugang zu Finanzdienstleistung bekommen, werden sie aktiv und können ihr eigenes Unternehmen gründen. Sie bekommen dafür das Geld und können es Schritt für Schritt zurückzahlen, das ist ein kontinuierlicher Prozess. Beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung  hat jedoch keinen Zugang zu diesem finanziellen Sauerstoff. Wir wollen diese Menschen erreichen, die ausgeschlossen sind.

Heute, nach über 40 Jahren, sind Mikrofinanzierungen und Mikrokredite ein bekanntes und geschätztes Konzept. Doch der Finanzsektor ist immer noch unempfänglich dafür, es ist eine Fußnote in der Finanzwelt geblieben. Warum ist es kein Mainstream? Weil es nicht funktioniert? Alle sagen, dass es funktioniert. Liegt es an potenziellen Problemen? Wir machen das seit 40 Jahren und haben keine gesehen. Es ist schlichtweg Widerwillen oder die Maschine namens Finanzsektor ist dazu nicht fähig. Wenn er also unfähig ist, dann lasst uns einen neuen Finanzsektor aufbauen, einen für die Armen. Der, den wir haben, ist falsch konzipiert, er ist für die Reichen. Gestalten wir einen für die Armen!

Konventionelle Venture-Capital-Investitionen, die nur dazu dienen, Geld zu verdienen, interessieren mich nicht. Aber wir haben einen sogenannten „Social Business Venture Capital Fund“ geschaffen. Wir wenden uns damit an junge und arbeitslose Menschen und sagen ihnen: „Vergesst Jobs.“ Menschen sind nicht dazu geboren, für andere zu arbeiten. Menschen sind unabhängige Wesen. Sie sind Unternehmer. Als sie in den Höhlen gelebt haben, haben sie keine Bewerbungen geschrieben. Sie wurden Jäger, Sammler, Problemlöser. Wie konnten wir das vergessen? Unternehmertum liegt uns im Blut, es ist in unserer DNA. Aber unser System ist so konzipiert, dass es dabei hilft, zu lernen, wie man einen Job bekommt. Es unterstützt nicht dabei, Entrepreneur zu werden. Wir haben unsere angeborene Veranlagung vergessen und eine unnatürliche Verpflichtung übernommen, einen Job anzunehmen und anderen Menschen zu dienen. Und während wir den Menschen dienen und nicht mit ihnen konkurrieren, helfen wir ihnen nur dabei, reich zu werden.

Deshalb sagen wir: „Jeder von euch kann Unternehmer werden. Bringt dem Fonds eine Geschäftsidee und wir investieren in sie. Wir werden Partner. Wenn ihr Erfolg habt, gebt das Geld zurück, das wir euch gegeben haben. Wir sind ein Sozialunternehmen, wir sind nicht an eurem Gewinn interessiert. Euer Gewinn bleibt bei euch und kann auf viele andere Menschen verteilt werden. Gebt uns das Geld zurück, das ich euch gegeben habe, und ich gebe es jemand anderem.“

Wie geht es weiter? Was ist der Schlüssel zu einem wirklichen Systemwandel, um die von Ihnen erwähnte „neue Zivilisation“ zu schaffen?

Die jungen Leute! Wie Greta. Sie sagt, dass wir die Natur zerstören und ihre Zukunft stehlen. Alle jungen Menschen sollten so fühlen. Wenn sie Verantwortung übernehmen, können sie diese neue Welt erschaffen. Wir können diese Straßen gemeinsam bauen. Und vielleicht werden sie Social Business und Entrepreneurship für sich entdecken. Anstatt einen Job anzunehmen, werden sie sagen: „Nein. Ich bin ein Unternehmer. Warum sollte ich für dich arbeiten? Ich kann viel größer und besser sein als das, was du mir anbietest. Ich steuere mein Leben, nicht du.“ – Dass junge Leute rebellieren – das ist die einzige Chance, die wir haben!

Das Interview führte Marisa Pettit auf Englisch, die Übersetzung ins Deutsche stammt von Lydia Skrabania.

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