Diskussion in kritischen Zeiten: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?

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Diese Frage, diesen Grundkonflikt der Balance gesellschaftlicher Kräfte, sieht man in die aktuelle Presse in Deutschland, Europa, sogar in der Weltpresse thematisiert:

Autor*in RESET , 19.06.10

Diese Frage, diesen Grundkonflikt der Balance gesellschaftlicher Kräfte, sieht man in die aktuelle Presse in Deutschland, Europa, sogar in der Weltpresse thematisiert:

Wir hatten vor Kurzem die Diskussion in Deutschland um den Afghanistaneinsatz, eine anhaltende Debatte, die es bis zum Aufgriff in einer Tatort-Folge geschafft hat. Die Frage: Wir schicken unsere Bundeswehr als Repräsentantin unserer Demokratie in den Krieg, um unsere Interessen zu verteidigen — und interessieren uns, so die Einzelnen von der Erfahrung geprägt zurückkehren, nicht mehr für sie. Für die Opfer, die unsere Truppen zurück nach Hause bringen — für die Sache, die in Afghanistan auf dem Spiel steht. Viele möchten sich am Einsatz nicht beteiligen, ohne echte Alternativen aufzuzeigen. Viele meinen aber auch, mit der Sendung unserer „Mannschaftsbeteiligung“ genug geleistet zu haben und das Thema anschließend unter den Teppich kehren zu können.

Ein anderes Beispiel ist die Lage am Golf von Mexiko: Die Ölkatastrophe weitet sich aus und fragt in ihrem tragischen Verlauf nach den Verantwortlichkeiten. Die obersten Staatsmänner in den USA und im Vereinigten Königreich sind frustriert, weil dieses im weitesten Sinne Gemeingut durch ein privatwirtschaftliches Unternehmen für die gesamte Welt und u.U. zukünftige Generationen geschädigt ist — und die Politik es versäumt hat einen funktionalen Regulationsrahmen zur Nutzung dieser Gemeingüter zu schaffen. Dennoch sind Schadensbegrenzung und Wiederherstellung des ökologischen Raumes nicht die einzigen Sorgen: Die Briten sorgen sich um ihre Pensionen, die Amerikaner wollen jetzt doch mehr in erneuerbare Energien investieren, die Konsumenten kommen nicht vom Öl los. Hintergrund: Fossile Brennstoffe sind längst nicht mehr nur das, Heizmittel. Sie sind intregriert in alle erdenklichen Alltagsprodukte –- es bringt also nichts, BP zu boykottieren, wie wir schon vor einigen Wochen besprochen haben. Praktisch unsere gesamte Konsumgesellschaft ist auf die Ressource Erdöl aufgebaut und weil es so lange so gut funktioniert hat, Erdöl die Modernisierungs- und Großindustrialisierungswellen von der Automobil- zur Agrarwirtschaft begleitet hat, gibt es momentan keine One-Size-fits-all-Alternative zu diesem existentiellen Rohstoff. Die life cycle costs, also die Kosten der Gesamtnutzung von der Erschließung zur Wiederverwertung und den Entsorgungskosten, wurden bei der Ausrichtung der globalen Wirtschaft auf den kleinsten gemeinsamen Nenner nicht beachtet. Als die Ressource Erdöl zur entscheidenden Industrie-Ingridienz gereichte, war die Zukunftsorientierung des nachhaltigen Wirtschaftens noch keine Priorität. Und doch wird der Fehler wieder gemacht, wenn ungefragt eine potentiell ähnlich katastrophenlastige Energie-„Alternative“ als „Fels in der Brandung“ präsentiert wird, nur weil in der Aufmerksamkeitsspanne der aktuelen Nachrichtenmedien der vermeintlichen „Alternativindustrie“ in den letzten drei Monaten kein fahrlässiges Handeln nachgewiesen werden kann.

Allerdings: Nach der Ölkrise in den 1970ern, nach der Ökologiebewegung in den 1980er, nach dem Crash der New Economy und dem zweiten Internetboom, mit der beständigen Fortentwicklung von Informationstechnologien und Produktionsverfahren wurden Krisen nicht zum Anlass genommen, mittel- und langfristige Alternativen zum schwarzen Gold zu entwickeln. Nun verdammen wir die BP-Manager und trauern der Lebensqualität einer Region und eines Ökosystems nach – während Konsum- und Produktionsgesellschaften weltweit weiter nach dem Lebenssaft globalen Wirtschaftens rufen und sich um den Nachschub bzw. die Preisstrukturen sorgen.

Es ist bemerkenswert, wieviele Akteure der Informationswelt sich der Situation annehmen und mit Infographiken und ähnlcihen Aufklärungsversuchen zum Diskurs um die Katastrophe beitragen. Noch viel bemerkenswerter jedoch ist die Diskrepanz zwischen der umfänglichen Bereitstellung und Diskussion von relevanten Informationen und der Handlungsebene zu sein. Wenn Bioethiker Perter Singer im Opinionator-Blog der NY Times tatsächlich ein apokaplyptisches „Should This Be the Last Generation?“-Scenario diskutiert und sich unsere Wissenschaftsblogosphäre vorbildlich in der Aufbereitung und Kontextualisierung der überwältigenden Informationen zeigt, dann verliert man doch aus dem Blick, dass dem vermeintlichen Alleskönner Erdöl eine zukunftsfähige Alternative entgegengesetzt werden muss.

Ein ganz anderes Feld zeigt den Anachronismus eines Geschäftsmodells: Der Medienwandel, welcher Verlage, Gesetzgeber, WerkschöpferInnen und die Medienkonsumenten gleichermaßen betrifft, wird in gesellschaftlichen Extremen diskutiert, die wenig aufeinander zuzugehen scheinen. Da gab es in dieser Woche die mit Spannung erwartete Rede von Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die für Interessierte in einer phantastischen Medienradio-Episode erklärt, resümiert und eingeordnet wird. Dass die Pressehäuser weltweit gezwungen sind, ihr traditionelles und überkommenes Geschäftsmodell den neuen technologischen Gegebenheiten anzupassen, ist längst keine Ungewissheit mehr. Dennoch sträuben sich die Verlage diese neuen Realitäten anzuerkennen und bestehen mit aller Macht auf die Regeln der Analogwelt, deren komfortable und sichere Profitraten Medienunternehmen teilweise zu Monopolisten, sicher aber zu Wirtschaftsgrößen krönten.

Die Gesellschaft muss sich also fragen: Was ist uns eine Qualitätspresse wert? In den USA ist die Verknüpfung des Schutzes der Demokratie u.a. durch die vierte Macht im Staat, die Presse, stärker als in Deutschland. Dennoch haben wir eine diverse und hochklassige Qualitätspresse, sowie einen starken Bereich Öffentlich-Rechtlicher Medien. Diese werden von den Gebührenzahlern, also allen Bürgerinnen und Bürgern, finanziert. Die Reform dieser Gebühren ist eine Seite der Diskussion — der vermeintliche Wettbewerb der Öffentlich-Rechtlichen mit privatwirtschaftlichen Angeboten eine andere. Problematisch wird es dann, wenn die Bürger für die Schaffung von Qualitätsjournalismus bezahlen, dessen Produkte dann nach wenigen Tagen wieder aus dem Netz gelöscht werden müssen. Oder: Wenn öffentlich-rechtliche Qualitätssparten zur Besänftigung der Medienwirtschaft ganz eingestampft werden — obgleich ihnen kein ähnliches Qualitätsprodukt auf dem freien Medienmarkt gegenüber steht.

So geschieht es momentan mit dem Informationstechnologie-Portal futurezone („fuzo“) des österreichischen ORF: Golem – Onlinejournalismus: ORF will Futurezone schließen (Update)

Der ORF will mehrere seiner Onlineangebote schließen, darunter auch die Technik- und IT-Seite Futurezone. Mit der Einschränkung seiner Onlineangebote will sich die österreichische öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt von den Verlegern die Zustimmung zum Ausbau der Onlinewerbung erkaufen.

Der Aufschrei in den neuen Medien ist groß und mittlerweile hat sich auch Widerstand organisiert und eine Initiative versucht, wertvolle und kritische Berichterstattung der futurezone zu retten: Retten wir die Futurzone doch selbst

Wir, die ErstunterzeichnerInnen dieser Initiative, haben uns daher entschlossen, eine Petition an den ORF zu richten. Ziel dieser Petition ist die Übergabe der Futurezone an die Community ihrer User und Stakeholder. Wir wollen – im Sinne des Crowd-Funding-Gedankens – eine Genossenschaft gründen, an der sich alle Interessierten beteiligen können und mit dieser Genossenschaft die Futurezone weiter betreiben und entwickeln.

Die Initiative hat eine Petition vorbereitet sowie eine Facebook-Gruppe ins Leben gerufen, um Menschen zum Engagement zu mobilisieren. Hoffentlich kommt das Genossenschaftsprinzip 2.0 auch in der Realität an.

Stichwort deutsches Sparpaket. Anstatt die 101 Links zum Thema zusammenzustellen, scheint es sinnvoller, einige Fragen zu stellen und Reaktionen zu vergegenwärtigen: Die Presse hat auf die Vorstellung der Sparmaßnahmen empört und provokant reagiert. Auf die Straße gehen sollen die BürgerInnen, kommentierte die FR und glaubte selbst kaum daran. Die BürgerInnen gingen auf die Straße, leider blieb es nicht bei einer friedlichen demokratischen Kundgebung. Stephan Ueberbach der Tagesschau kommentierte mit Realitätscheck und Wirtschaftsexperten wie VertreterInnen der Sozial rufen zur Neugewichtung der Sparmaßnahmen auf. Die Berichterstattung vermag es, die eingerechneten Luftnummern zur Schönung der Bilanz aufzudecken und Organisationen reagierten entsprechend mit Kritik. An analytischer Berichterstattung mangelt es also auch hier kaum — an dem Aufzeigen und Präsentieren von Alternativvisionen scheitert die Öffentlichkeit jedoch. Eine erfreuliche Ausnahme kam diese Woche in der taz zu Wort: Der junge Grüne Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler erklärt die Brisanz der Lage und die Chance, jetzt Veränderungen anzupacken, die zukünftigen Generationen den Weg ebnen. Auf seiner Homepage stellt Kindler den mit seinem „Grünen Sanierungsplan“ ein Papier vor, dass meines Wissens nach als Alternativvision allein steht.

Die europäische wie weltweite Wirtschaftskrise erfordern eine Neuausrichtung und Neufassung der Ideen und Realitäten des Sozialstaats, der (sozialen) Marktwirtschaft und des globalen Informationsangebotes.

Es sind bewegte Zeiten, in denen wir leben: Seit 40 Jahren gibt es den Ruf nach Alternativen zum Business as usual — und den großen Disconnect zwischen Befürwortern eines neuen, globalen Agierens und denen, die an bestehenden, vermeintlich immer währenden Bequemlichkeiten festhalten wollen.

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Crazy News Week

Reaktionen auf die Ölkatastrophe, Berichterstattung zur Situation um Israel & Deutschland sucht den Bundespräsidenten