Die Digitalagenda – auf dem Weg in die Umweltpolitik 4.0?

Vor wenigen Tagen hat das BMU seine Digitalagenda veröffentlicht. Mit über 70 Maßnahmen soll damit die Digitalisierung in Richtung Nachhaltigkeit geschubst werden. Wir sprachen mit Dr. Stephan Ramesohl, der mit dem Wuppertal Institut an der Entwicklung der Agenda beteiligt war.

Autor*in Sarah-Indra Jungblut, 09.03.20

Regierungsprogramme und Agenden, die sich mit der Digitalisierung beschäftigen, gibt es viele. Doch meistens nehmen sie die Digitalisierung eher aus wirtschaftspolitischer Sicht in den Blick, als Entwicklungsmotor, als Triebfeder für ökonomisches Wachstum. Die Digitalagenda, die das BMU jetzt vorgelegt hat, geht jedoch in eine andere Richtung: Sie will in mehr als 70 Einzelmaßnahmen die Digitalisierung in eine sozial-ökologische Richtung lenken. Dazu gehören Maßnahmen wie der digitale Produktpass, ein Instrument für mehr Transparenz über die Umweltwirkungen eines Produktes, das darüber informiert, wo die Rohstoffe herkommen, unter welchen sozialen Bedingungen produziert wurde und wie viel CO2 dabei entstanden ist, oder Regeln für eine bessere Reparierbarkeit und verpflichtende Updates, damit Geräte nicht bereits nach kurzer Zeit in der Schublade oder im Elektroschrott landen, aber auch Vorgaben im Umgang mit Retouren, Streamingeinstellungen und Effizienznachweise für Rechenzentren.

Mit diesem Katalog an Maßnahmen, die einerseits darauf abzielen, die Digitalisierung umweltgerecht zu gestalten als auch die Technologien für mehr Umwelt- und Klimaschutz einzusetzen, ist die Digitalagenda bisher nicht nur in Europa, sondern auch weltweit die erste ihrer Art. Wir sprachen mit Dr. Stephan Ramesohl, Co-Leiter des Forschungsbereichs Digitale Transformation am Wuppertal Institut darüber, wie die Digitalagenda entstanden ist, was das Besondere daran ist und wie es damit weitergeht.

© BMU/Christoph Wehrer Svenja Schulze bei der Vorstellung der Digitalagenda in Berlin.

Herr Ramesohl, wie ist die jetzt vorliegende Digitalagenda entstanden und inwieweit waren Sie selbst beteiligt?

Die Digitalagenda, wie sie jetzt vorliegt, ist ein weiterer Schritt im Prozess, der beim BMU ja schon im letzten Jahr begonnen hat. Auf der letzten re:publica im Mai 2019 sind erstmals die Eckpunkte einer umweltgerechten Digitalisierung veröffentlicht worden, wo unter anderem auch die Digitalagenda angekündigt wurde. Der Prozess der Digitalagenda ging dann eigentlich im Oktober 2019 los mit einer sehr intensiven Arbeitsphase. In dieser Phase war das Wuppertal Institut zusammen mit Ernst & Young (EY) beratend beteiligt und die Agentur Zum Goldenen Hirschen übernahm am Ende die Gestaltung.

Die Agenda baut unter anderem auf den Umweltwerkstätten auf, die das Projektteam in enger Zusammenarbeit mit dem BMU 2019 konzipiert, organisiert und ausgewertet hat und auf deren Grundlage dann die Redaktionsarbeit und Zuspitzung umgesetzt wurde. Das war eine sehr intensive, dreiwöchige Phase, wo in den verschiedensten Themenfeldern mit internen und externen Experten viele Fragen diskutiert wurden. Danach wurden die Inhalte noch mal im BMU selbst in den Fachabteilungen intensiv bearbeitet.

Wie geht es jetzt nach der Veröffentlichung weiter?

Der Diskussionsprozess geht weiter, der Umsetzungsprozess ist im Gange und wird weitergeführt. Es ist jetzt die Aufgabe des BMU, jede Maßnahme durch einen Verantwortlichen, ein sogenannten „Owner“, voranzutreiben und den Fortschritt intern nachzuverfolgen. Die Agenda ist ein dynamisches Produkt, ein „Living Document“, wie man so schön sagt, und muss im Umfeld der sich stetig wandelnden Digitalisierung kontinuierlich weiterentwickelt werden. Auf der jetzigen Grundlage geht es erst einmal darum, konkrete Maßnahmen anzustoßen und die politischen Grundlagen mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands zu legen, die ja im Sommer startet. Auch in den beiden nachfolgenden Ratspräsidentschaften wird es einen Schwerpunkt „Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ geben, sodass jetzt auf europäischer Ebene für die nächsten anderthalb Jahre ein kontinuierlichen Diskussions- und Gestaltungsprozess angestoßen werden kann.

Darüber hinaus wird es eine öffentliche Begleitung und weitergehende Diskussionen zur Digitalagenda geben, wo über die Umsetzung und den Fortschritt berichten werden kann. Ein erster wichtiger Meilenstein ist hier wiederum die nächste re:publica im Mai 2020, auf der das BMU prominent vertreten sein wird.

Was ist das Besondere an der Digitalagenda?

Die Digitalagenda ist im europäischen Rahmen – und vielleicht sogar weltweit – eines der ersten offiziellen Regierungsprogramme, oder eine Initiative eines Ministeriums, das den Schutz von Mensch und Natur als Ressortauftrag konsequent als einen Schwerpunkt in die Mitte des digitalpolitischen Handelns stellt. Das BMU adressiert die Digitalisierung als einen der zentralen Treiber für den Energie- und Ressourcenverbrauch, aber gleichzeitig auch als Gestaltungschance mit historischem Lösungspotenzial für die Herausforderungen des sozial-ökologischen Umbaus.

Wenn man sich jetzt die Digitalagenda einmal genau anschaut, liest man einen ganz klaren politischen Gestaltungsauftrag heraus, der meiner Meinung nach gut begründet ist. Denn: Digitalisierung ohne politische Lenkung führt im aktuellen Trend nicht zu einer ökologischen Nachhaltigkeit, sondern verschärft und beschleunigt die Probleme unserer derzeitigen Pfadabhängigkeiten. Gleichzeitig muss die Innovations- und Transformationskraft von digitalen Lösungen auf die dringenden Aufgaben der nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft gelenkt werden. Das ist etwas Neues in der (Nachhaltigkeits-)Politik, das man in vielen der anderen digitalpolitischen, sehr technologieorientierten Strategien nicht findet.

Dazu kommt für mich noch ein anderer Aspekt: Aufgrund der hohen Innovations- und Veränderungsdynamik der Digitalisierung gibt es keine fertigen Konzepte aus der Schublade. Es geht daher auch um innovative Politikansätze. Wie verbinden wir gesellschaftliches Interesse und Gemeinwohl, den Schutz von Natur und Umwelt mit den Potenzialen und Geschäftschancen digitaler Lösungen? Welche Rolle spielt Politik als Mittler zwischen Gesellschaft, den öffentlichen Interessen und dem Organisieren von privaten Akteuren in Märkten? Wie sehen Plattformen aus, welche Spielregeln gelten hier, was bedeuten Daten für den Umweltschutz und umweltrelevantes Handeln und so weiter. Hier müssen immer wieder neue Lösungen im Diskurs entwickelt, verhandelt und eventuell auch wieder revidiert werden. Diese Art von Politik zu machen ist neu, und in der Digitalagenda finden sich hierzu Ansatzpunkte, zum Beispiel als Reallabore zum nachhaltigen Konsum in der Plattformökonomie.

In der Agenda wurden ja zentrale Handlungsfelder herausgearbeitet, aus denen sich die einzelnen Maßnahmen ergeben. Welche sind das?

Zunächst einmal muss die Grundlage durch eine umweltgerechte Digitalisierung gelegt werden. Das bedeutet den Energie- und Ressourcenbedarf für digitale Technologien und Infrastrukturen deutlich zu senken. Im Fokus stehen hier unter anderem die Rechenzentren – das heißt, die „unsichtbare“ Infrastruktur hinter der Cloud zu erfassen und ökologisch auszurichten.
In den verschiedenen Handlungsfeldern gibt es viele spezifische Ansatzpunkte. Übergreifende Schwerpunktthemen sind die Transparenz von Produkten und Lieferketten sowie neue Regelungen und Strategien, um den Onlinehandel oder die Plattformökonomie umweltgerecht zu gestalten und als Werkzeug für den sozial-ökologischen Umbau zu nutzen. In jedem dieser Felder gibt es Maßnahmen, die heute schon umgesetzt werden oder an denen konkret gearbeitet wird. Wichtig ist, dass angefangen wird und zum Beispiel im Dialog mit Partnern im Onlinehandel erste Schritte auszuprobieren und vielleicht auch zunächst als Selbstverpflichtung bessere Filteroptionen für nachhaltige Produkte und Labels umzusetzen.

Eine dieser Maßnahmen ist auch der Produktpass. Was hat es damit auf sich?

Der digitale Produktpass, das ist aus meiner Sicht eines der ganz zentralen Elemente der Digitalagenda und findet sich auch im kürzlich vorgestellten Green New Deal der EU-Kommission. Im Kern geht es um einen digitalen Datensatz, der ein Produkt, seine Zusammensetzung und Herkunft sowie relevante Informationen zum Recycling beschreibt. Diese Transparenz von Produkten und Lieferketten ermöglicht, dass ich als Verbraucher und Verbraucherin weiß, was ich in der Hand halte, wo das Produkt herkommt, was drinsteckt, wie ich es nutzen und auch reparieren kann und wo es am besten zur Entsorgung und Wiederverwertung am Ende hingeht. In der Konsequenz bietet dies für Hersteller, Lieferanten, Kunden und Entsorger ganz neue Voraussetzungen für Entscheiden und Handeln.

Ein solches System zu etablieren wird eine Weile dauern, denn das Thema ist konzeptionell und methodisch nicht ganz leicht zu realisieren. Eine Gebrauchsanweisung oder einen Recyclinghinweis digital zu hinterlegen geht zum Beispiel über einen QR Code relativ einfach. Einen CO2-Rucksack der unterschiedlichsten Bearbeitungsstufen der Vorleistungskette zu erfassen, ist dagegen nicht ganz so trivial. Trotzdem ist es auch bei diesem Thema wichtig, mit der Arbeit zu beginnen, auf vorhandene Lösungen zum Beispiel bei Energielabeln aufzubauen und diese schrittweise auszubauen.

Aber der Produktpass, wie auch viele der anderen Maßnahmen, zielen doch auf freiwillige Selbstverpflichtungen ab, oder? Können die Maßnahmen damit wirklich schlagkräftig sein?

Natürlich müssen wir am Ende dahin kommen, dass die Maßnahmen wie ein Produktpass eine systematische und verpflichtende Vorgabe für alle Akteure werden. Auf dem Weg dahin müssen und können jedoch Zwischenschritte gemacht werden – zum Beispiel in Form von Selbstverpflichtungen.

Die Digitalagenda ist bisher nicht nur in Europa, sondern auch weltweit die erste ihrer Art. Aber wie wirksam können diese Maßnahmen sein, wenn sie nur auf nationaler Ebene umgesetzt werden?

Ein Land wie Deutschland kann Dinge vorantreiben und in gewissen Bereichen auch pilotieren und umsetzen. Mit Blick auf digitale Produkte und Dienstleistungen in einer globalisierten Welt braucht das alles am Ende natürlich europäische Regelungen, weil der gemeinsame europäische Markt betroffen ist. Die große Chance ist dabei, dass diese Regelungen dann weltweit Wirkung entfalten werden, weil die ganze Wucht des weltweit größten europäischen Wirtschaftsraumes den globalen Herstellern gegenübersteht. Um zu derartigen europäischen Regelungen zu kommen, ist jedoch die Initiative der Mitgliedsstaaten unverzichtbar – genau in so einer Vorreiterrolle liegt die besondere Bedeutung einer deutschen Digitalagenda.

In der Agenda werden die einzelnen Maßnahmen in drei Kategorien unterteilt: now, next und new, also Maßnahmen, die bereits umgesetzt werden, demnächst anstehen und in Zukunft kommen werden. Auch wenn dahinter keine Deadline steht, macht diese Unterteilung die Agenda dennoch abfragbar hinsichtlich der erreichten Ziele. Wie soll der Erfolg der Maßnahmen gemessen werden?

Das ist ein guter Punkt – und der wird natürlich genau jetzt diskutiert ab Tag eins nach der öffentlichen Vorstellung. Ein internes Umsetzungsmonitoring aufzubauen wird der nächste Schritt des BMU sein.

Vielen Dank, Herr Ramesohl!

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