„Bio-logging“ während der Covid-19-Pandemie: Eine einzigartige Chance für die weltweite Tierforschung

Nutzen Wildtiere wirklich die Abwesenheit der Menschen, um die Natur zurückzuerobern? Forschende rufen zur weltweiten Zusammenarbeit bei der High-Tech-Wildtierbeobachtung auf.

Autor Mark Newton:

Übersetzung Mark Newton, 09.07.20

Die weltweit verhängten Beschränkungen durch die Corona-Krise haben sich auf den Alltag von Milliarden Menschen ausgewirkt. Für Tiere könnten die kurzfristigen Veränderungen menschlicher Aktivitäten eine einzigartige Gelegenheit sein. Denn, so die Ansicht eines britischen Teams unter der Leitung des Biologieprofessors Christian Rutz von der University of St. Andrew’s School of Biology in einem kürzlich in der Zeitschrift Nature veröffentlichten Artikel, in der „Anthropause“, wie sie das Team nennt, steckt die Chance, Erkenntnisse darüber zu erhalten, wie sich eine zunehmend überfüllte Erde in Zukunft zwischen Mensch und Tier besser teilen lässt.

Vor allem in den sozialen Medien finden sich unzählige Bilder und Videos, die Tiere in ungewöhnlichen Gebieten zeigen, wie zum Beispiel Ziegen in Städten in Nordwales und Schakale in den Parks von Tel Aviv. Sind dies Hinweise darauf, dass Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Industrie und der wirtschaftlichen Tätigkeiten in bestimmten Gebieten zu mehr Präsenz von Wildtieren geführt haben, insbesondere in städtischen Gebieten?

Wahrscheinlich sind viele dieser Social Media-Beiträge, insbesondere in Bezug auf Delfine und Schwäne in Venedig, nicht ganz korrekt. National Geographic geht sogar so weit, viele dieser angeblichen Beweisbilder und -videos als „gefälschte Nachrichten“ zu bezeichnen. Gleichzeitig ist natürlich nicht auszuschließen, dass viele dieser Wildtiersichtungen dadurch zustande kommen, dass mehr Menschen aufgrund des Lockdowns in Parks und auf Grünflächen unterwegs waren und Begegnungen zwischen Mensch und Tier damit wahrscheinlicher geworden sind. Zudem könnten viele der Sichtungen von Stadttieren, wie Füchsen und Schakalen, nicht unbedingt auf eine Rückkehr in Gebiete hindeuten, aus denen sie vertrieben worden sind, sondern auf einen Mangel an Nahrung aus menschlichen Quellen in ihren aktuellen Gebieten. In diesem Sinne könnten sich die Lockdowns sogar nachteilig auf einige städtische Tierarten auswirken.

Unabhängig davon, was davon wahr und was Fake ist und in wie weit andere Gewohnheiten die Wahrnehmung verändern, sollte jedoch wieder deutlich geworden sein, dass Tiere und Menschen heute näher als je zuvor zusammen leben und zunehmend voneinander abhängig sind. Was wir jetzt brauchen, so Rutz und seine Kollegen, ist daher eine solide quantitative Bewertung der Bewegungsmuster und des Verhaltens der Tiere in diesem besonderen Zeitraum, um so wertvolle Einblicke für zukünftige Schutzbemühungen zu erhalten.

Wildtieren im 21. Jahrhundert auf der Spur

Das Team sieht neue Technologien, einschließlich der so genannten „Bio-Logger“, bei diesen Bemühungen an erster Stelle. Bio-Logger sind verschiedene Geräte, die entweder direkt oder an einem Halsband oder Geschirr an den Tieren angebracht oder sogar implantiert werden können. Einfache Aufspürgeräte, wie zum Beispiel Funkhalsbänder, werden seit Jahrzehnten eingesetzt. Satellitenhalsbänder und andere an Tieren direkt angebrachte Sensoren können jedoch einen noch nie dagewesenen Einblick in das tägliche Leben von Wildtieren bieten.

Größere Tiere waren bisher die besten Kandidaten für solche Studien, doch wie Dr. Steve Portugal, ein vergleichender Ökophysiologe an der Royal Holloway Universität London, gegenüber RESET erklärt, eröffnet die zunehmende Miniaturisierung der Monitoring-Technologien neue Möglichkeiten: „Mit dem technologischen Fortschritt werden die Bio-Logging-Geräte immer kleiner, was neue Möglichkeiten eröffnet, Arten zu untersuchen, die bisher aufgrund ihrer geringen Größe und ihres Gewichts tabu waren. Bio-Logger wurden jetzt auch erfolgreich bei Fledermäusen, kleinen Sperlingsvögeln und fliegenden Insekten eingesetzt. Zu wissen, wohin die Tiere gehen und was sie dort tun, wo sie sich aufhalten, ist zum Beispiel für die Erhaltung und den Schutz wichtiger Gewohnheiten und Standorte von entscheidender Bedeutung“.

Neuere Sensoren sind nicht nur in der Lage, den Aufenthaltsort eines Tieres zu verfolgen, sondern sie können auch Informationen über das Verhalten und die allgemeine Physiologie eines Tieres auslesen. An Meeresschildkröten angebrachte Bio-Logger können zum Beispiel ständig die Wassertemperatur und den Wasserdruck ablesen und so die Tiefe anzeigen, in die Meeresschildkröten tauchen. Zusätzlich kann ein Trocken-/Nass-Sensor auch anzeigen, wo und wann Meeresschildkröten den Ozean verlassen, um Eier zu legen. Gleichzeitig fungieren die Tiere dabei auch als Biomonitor: Über die Bio-Logger sammeln die Tiere Daten, die sich nicht nur auf das Tier selbst konzentrieren, sondern auch auf die Umgebung des Tieres.

Obwohl Bio-Logger meistens irgendwann wieder eingesammelt werden müssen, können sie aufgrund ihrer langen Batterielebensdauer – in manchen Fällen viele Jahre – wesentlich konsistentere Informationen liefern als normale menschliche Beobachtungen. Letztlich haben sie auch einen wirtschaftlichen Vorteil, denn sie sind auf lange Sicht billiger und einfacher als Beobachtungsexpeditionen vor Ort.

Gegenwärtig sind weltweit viele verschiedene Initiativen unterschiedlicher Größe im Gange, von denen einige auf Movebank.org zu sehen sind, einer kostenlosen Online-Datenbank von Tierverfolgungssensoren.

Professor Rutz, der auch Präsident der International Bio-logging Society ist, hat nun zu einer intensiveren Zusammenarbeit aufgerufen, um die Auswirkungen der Anthropause auf die Wildtiere aus einer Vielzahl von Quellen umfassend zu bewerten. Sein Aufruf hat wohl bereits zu einer enthusiastischen Unterstützung aus der gesamten Bio-Logging-Gemeinschaft geführt.  „Auch in Europa haben viele Wissenschaftsteams Tiere mit Sendern ausgestattet, deren Daten wir nutzen können. Damit könnte man solche Studien unter anderem an Wildkatzen, Bären, Rehen und Rothirschen durchführen“, sagt auch Thomas Müller, Wildtierforscher am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum und der Goethe-Universität Frankfurt.

Martin Wikelski, Direktor am Konstanzer Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und Mitglied des Exzellenzclusters Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz, erhofft sich vor allem innovative Vorschläge für ein besseres Zusammenleben von Mensch und Tier aus den neuen Erkenntnissen. „Niemand fordert Menschen auf, dauerhaft im Lockdown zu bleiben. Aber womöglich werden wir feststellen, dass relativ geringfügige Änderungen unseres Lebensstils und unserer Infrastruktur zu erheblichen Vorteilen für Ökosysteme und Menschen führen.“

Allerdings könnte die biologische Protokollierung mit einem Nachteil verbunden sein. Dr. Portugal weist darauf hin, dass das Anbringen von Bio-Loggern die Nachkommen, den Energieaufwand und die Überlebensrate einzelner Tiere beeinflussen könnte, insbesondere bei Tierarten, die fliegen oder tauchen können. Daher sollten die Forschenden auf einen verantwortungsbewussten Umgang mit Bio-Loggern achten und nur an wirklich geeigneten Tieren anbringen.

Naturschützer*innen experimentieren auch mit anderen Methoden zur Verfolgung und Identifizierung von Tieren in freier Wildbahn, die keine Sensorik an den Tieren direkt erfordern, zum Beispiel über Audiosensoren, Bilderkennungssoftware und künstliche Intelligenz. Mit der Weiterentwicklung dieser Technologien ist auch die Hoffnung verbunden, dass sie zur Beurteilung der Gesundheit und des Verhaltens von Tieren eingesetzt werden könnten – wenn auch auf statischere Weise als Bio-Logger, dafür aber mit geringeren Auswirkungen auf die Tiere.

Dieser Artikel ist eine Übersetzung von Sarah-Indra Jungblut. Das Original erschien zuerst auf unserer englischsprachigen Seite.

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