Spotlight Brasilien: Favela-WLAN und die Macht der Geschichten – Bürgerjournalismus in Brasilien

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Im Rahmen des lab around the world war das betterplace lab auf einer weltweiten Forschungsreise und hat digital-soziale Projekte besucht. Anja Adler hat in der Favela Santa Marta erkundet, wie sich die Bewohner der illegalen Siedlungen auf Twitter, Facebook und Blogs eine Stimme verschaffen. Ein Gastbeitrag.

Autor*in Gast , 21.05.14

Santa Marta war die erste Favela, die 2008 befriedet wurde gilt seitdem als Vorzeigebeispiel. „Modelo de que?“ sagt eines der Protestschilder an den Häuserwänden – Modell für was? Zwar ist das Leben seit fünf Jahren hier nun sicher vor den Drogenkartellen, die von der Befriedungspolizei in andere Stadtgebiete vertrieben wurden. Die Hälfte der knapp 600 Häuser ist auf Kosten des staatlichen Programms renoviert. Aber: Bei Vielen fehlt immer noch eine funktionierende Wasserver- und Müllentsorgung sowie ordentliche Bausubstanz. Es gibt also noch viel zu tun. Und das Internet und neue Technologien geben den Menschen Santa Marta und anderen Favelas eine Stimme, auf diese aufmerksam zu machen. Und lassen sie so ihre eigenen Geschichten erzählen.

In Santa Marta war ich mit Thiago Firmino unterwegs (und meinem tollen Übersetzer Pedro – danke!). Der DJ und Fotograf Thiago hat schon Berühmtheiten wie Alicia Keys und Madonna herumgeführt. Ich fühlte mich also durchaus geehrt. Seit 2010 bietet er zusammen mit anderen Einwohnern Touren (http://favelasantamartatour.blogspot.com.br/) durch die Favela an und organisiert dann mit dem Geld Veranstaltungen für die Gemeinschaft – so kam er letztes Weihnachten wohl mit dem Hubschrauber angeflogen und hat, als Weihnachtsmann verkleidet, Geschenke an die Kinder verteilt. Auf Facebook und Twitter macht er Werbung für seine Events. Er postet aber auch Fotos von Problemen, zum Beispiel um auf den Müll in den Straßen aufmerksam zu machen. Er twitterte auch schon direkt an den Bürgermeister und den Energiekonzern, als letztes Jahr bei starken Regenfällen der Strom in der Santa Marta ausfiel.

Von „Lanhouses“ und WLAN

Laut dem Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) lebten 2010 ungefähr 11,4 Mio. Menschen in Favelas, das sind sechs Prozent der brasilianischen Bevölkerung. In Rio de Janeiro sind es 20 Prozent der Einwohner. In den illegalen Besiedlungsgebieten haben sich deshalb oft Parallelstrukturen gebildet, die durch kriminelle Drogenkartelle beherrscht werden und der Zugang du den elementaren Dingen wie Strom oder Wasser fehlt.

Seit 2008 versucht die Stadtverwaltung diesen Problemen zu entgegnen und hat das „Unidade de Polícia Pacificadora“-Programm (UPP) ins Leben gerufen. Mithilfe von ca. 12.000 Militärpolizisten werden so nach und nach Favelas befriedet. Der Befriedung folgt ein Infrastruktur-Programm. Es werden Häuser und Schulen gebaut. Stromleitungen und Wasseranschlüsse gelegt. Und es gibt kostenloses Internet – mittlerweile in 36 Vierteln. Allerdings funktioniere das nur in fünf wirklich gut, sagt Thiago mit einem Augenzwinkern. Das Internet gehöre aber trotzdem mittlerweile zum Alltag.

Während der Regierung des letzten Präsidenten Lula da Silvas gelang es, die Armut Brasiliens drastisch zu reduzieren. So haben mittlerweile auch immer mehr Menschen der unteren Klassen, die oft informell beschäftigt sind und in illegal in den Favelas leben, Zugang zu neuen Technologien. Vor einigen Jahren galten die „Lanhouses“, meist einige Computer, die für Cent-Beträge in lokalen Bars oder Kiosken genutzt werden konnten, noch als wichtigste Zugangsquelle. Heute sieht man sie kaum noch in den engen Gassen.

Für die Cidade de Deus, die zweite befriedete Favela, gibt es dazu Daten: Fast die Hälfe der Haushalte hatte 2010 schon einen eigenen Computer, die meisten mit Internetanschluss. Laut dem Buzzing Cities-Projekt haben 90 Prozent der Jugendlichen mittlerweile Zugang zum Netz, was vor allem an den günstigeren Mobiltelefonen liege. Auch wenn der Stromanschluss also nicht immer funktioniert, PCs und Smartphones sind auch hier keine Seltenheit mehr.

Popstars und Watchblogs

Und so hört man immer mehr Geschichten aus den Favelas – auf Twitter, Facebook und Blogs. Die Bewohner sind stolz auf ihre Viertel und wollen nicht nur über Probleme reden, sondern vor allem auch das öffentliche Bild verbessern. Einige von ihnen werden zu richtigen Internet-Pop-Stars. Rene da Silva zum Beispiel. Der 18-Jährige hat über 60.000 Follower auf Twitter und bloggt auf Voz de Communidade über das Leben im Complexo do Alemão. Schon mit 11 Jahren hat eine eigene Zeitung für die Favela herausgegeben und ist wenig später zur Social Media-Berichterstattung gewechselt. In einer Zeit, in der sich Journalisten nicht in die Favelas trauten, war er eine der wenigen Stimmen. Mittlerweile erhält er für seine Arbeit im Zuge der WM-Aufmerksamkeit sogar Finanzierung durch Coca Cola.

Aus Roncinha, der größten Favela mit mehr als 70.000 Einwohnern, berichtet Zezinho mit seinem Blog. In diesem Video erklärt er, warum es ihm wichtig ist, seine Perspektive über das Leben dort mitzuteilen. Viele Menschen hätten einfach eine falsche Vorstellung, von dem Leben dort. Es gibt noch einige weitere Beispiele dieser neuen Form des Favela-Bürgerjournalismus. Systematisch wird diese Form der Berichterstattung schon seit über zehn Jahren durch Viva Rio gefördert. Mit dem Projekt Viva Favela sorgen sie für die Professionalisierung und Ausbildung des Graswurzeljournalismus. Um die Jahrtausendwende erlebte Rio de Janeiro eine Welle an Gewalt und die Berichterstattung aus den Favelas war für Journalisten so gut wie unmöglich. Mit dem Projekt wurden bereits damals Einwohner als Journalisten befähigt. Sie lernen schreiben, fotografieren, filmen. Zusammen mit einem Team aus Profis stellen sie ihre Beiträge auf der Web-Plattform für die klassische Medienberichterstattung zur Verfügung.

In den letzten Jahr dreht sich viel der Social Media-Berichterstattung vor allem um eine transparente Begleitung des Befriedungsprozesses. Vorwürfe von Polizeigewalt und Willkür tauchen immer wieder auf, Infrastrukturprobleme werden nicht gelöst. Der Watchblog Rio on Watch berichtet beispielsweise mit Fokus auf Polizeigewalt. In Englisch, damit es die ganze Welt verfolgen kann. In Deutsch bloggen übrigens die beiden Journalistinnen Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl für das Buzzing Cities-Projekt aus der Favela Rocinha. Sie leben seit dem letzten Jahr dort und berichten rund um die WM auf ihrem Blog.

In Zukunft mehr als Geschichten?

Mithilfe neuer Technologien generieren die Favela-Bewohner Aufmerksamkeit für ihre Themen. Aber eigentlich könnte das Internet doch mehr. Ich habe Thiago nach Bürgerbeteiligung und den Austausch mit Politikern befragt. Von Mobilisierungsplattformen wie Meu Rio oder Open Data-Anstrengungen der Stadtverwaltung hätte er noch nichts gehört. Den Favela-Einwohnern sei es eh lieber, wenn Politiker zu Besuch zu ihnen kämen. Aber Beteiligungsprojekte auf Basis neuer Informationstechnologien könnten dennoch eine Brücke sein. Allerdings nur, wenn sie die lokalen Strukturen berücksichtigen.

In einem Pilotprojekt hat das Forscherteam von Roberto Lemos in 2011/2012 im Auftrag der Getulio Vargas Stiftung die Plattform „Melhorar Commuidade“ (was so viel heißt, wie die Favela verbessern) ausgetestet. Sie haben auf der Plattform eine Online-Umfrage in Lanhouses, in Kooperation mit NGOs und an anderen öffentlichen Orten angeboten, um herauszufinden, was die Einwohner der Cidade de Deus gern verbessern wollen. Zusätzlich waren Anwohner mit mobilen 3G-Modems unterwegs. Nur durch diese Verbindung von On- und Offline wurde das zum Projekt zum Erfolg, sagt zumindest das folgende Video.

FGV Melhora Comunidade leg. from Rodrigo Felha RF on Vimeo.

Mehr über die weltweite Forschungsreise in 14 Länder des betterplace lab erfährst Du hier: lab around the world

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